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Feindesliebe

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Als Feindesliebe bezeichnet man ein individuelles und soziales Verhalten, das eine Situation der Feindschaft durch bewusste Wohltaten für Feinde zu überwinden sucht. Zielrichtung ist meist die Versöhnung mit ihnen zu Gunsten des beiderseitigen Glücks und dauerhaften Zusammenlebens. Dazu wird meist auf jede Rache und Gewalt gegenüber feindlicher Gewalt verzichtet.

Dieses Verhalten ist ursprünglich religiös begründet. Weil Jesus von Nazaret ein Gebot der Feindesliebe aussprach, wird es oft als christliche Besonderheit aufgefasst. Im heutigen interreligiösen Dialog wird jedoch anerkannt, dass Gutestun für Feinde, Gewaltfreiheit und Überwindung von Feindschaft ungeachtet verschiedener Begründungen auch in anderen Weltreligionen eine bedeutende, sogar zentrale Rolle spielen. Auch die neuzeitliche Ethik seit der Aufklärung wurde auf vielfältige Weise davon beeinflusst.

Inhaltsverzeichnis

[Bearbeiten] Hinduismus

Schon die ältesten religiös-philosophischen Schriften Indiens, die Veden und Upanishaden (entstanden um 1500 v. Chr.), enthalten Ahimsa, das Prinzip des Nichtverletzens. Es beinhaltet ein bewusstes, täglich geübtes Vermeiden jeder Form von Gewalt in Taten, Worten und Gedanken. Zudem verlangt hinduistische Ethik, der Dharma, ausdrücklich auch Ksama: Nachsicht und Vergebung.

Die Begründung dafür liegt für Hindus großenteils im Gedanken der Einheit aller Lebewesen. Der bekannte Vers 6 aus Isa Upanishad drückt dies so aus:

Der alle Wesen im Selbst [ Atman ] sieht und das Selbst in allen Wesen, hasst niemanden.

Ähnlich lässt etwa das Devi Bhagavatam, ein wichtiges Buch für die Anhänger der Göttin, diese über ihren Verehrer sagen (7.37.11-20):

Er sieht mich in allen Wesen und liebt mich so wie er sich selbst liebt. Er macht keinen Unterschied zwischen den Wesen und mir, und er findet denselben Geist überall.

Das Mahabharata, ein Buch für die ethischen Grundlagen der Hindus, fordert an mehreren Stellen deutlich dazu auf, erlittenes Unrecht nicht zu vergelten. Der Weise Markandeya sagt (Mahabh.3.2.106):

Man soll niemals Schlechtes für Schlechtes zurückgeben, sondern ehrenhaft gegen jene handeln, die einem Übles angetan haben.

Die Bhagavad Gita, eine der populärsten Schriften des Hinduismus, zählt in Kapitel 16.2-3 die „Gaben des Menschen von göttlicher Natur“ auf: Vergebung, Zornlosigkeit, Entsagung, Frieden, Nichtverleumdung, Mitleid mit allen Lebewesen, Begierdelosigkeit, Milde, Bescheidenheit, Beständigkeit, lichtvolle Stärke, Reinheit, Fehlen von Feindseligkeit, Nicht-Hochmut. Alle diese Tugenden ergänzen einander und machen Ahimsa erst möglich. Der, der bewusst auf jede Gewalt verzichtet, kann so erst der Gewalt des Feindes aktiv widerstehen.

Der Jainismus als Lehre Mahaviras, die etwa zeitgleich mit der Buddhas entstand, hat die Prinzipien des Ahimsa im Alltag der Mönche umzusetzen versucht.

Mahatma Gandhi studierte bei einem Jaina und las täglich die Bhagavad Gita. Er leitete aus dem Gebot der Ahimsa absolute Gewaltfreiheit gegenüber Feinden ab. In seinem Konzept der Satyagraha verband er das aktive Festhalten der Wahrheit (Sanskrit: satyam) mit dem bewussten Auf-sich-Nehmen von gewaltsam zugefügtem Leid bis hin zum Selbstopfer (tapasya). Im nationalen Unabhängigkeitskampf Indiens gewann dieses Konzept revolutionäre Kraft und führte zur Überwindung der langjährigen britischen Kolonialherrschaft.

Gandhis Gewaltfreiheit war zugleich ein aktives, geduldiges Vorgehen gegen kulturelle und nationale Fremdbestimmung. Das Festhalten der Wahrheit gegen die Gewalt des Feindes sollte nicht nur die Situation der Gewaltopfer, sondern auch die der Gewalttäter langfristig verändern. Er hatte dabei nicht nur das Wohl Indiens, sondern auch das der Kolonialherren und der englischen Arbeiter im Auge. Er glaubte, dass die Gewaltfreiheit auch für sie der einzig erfolgversprechende Weg zu wirklicher Gesellschaftsveränderung sein könne. Er wollte ihre Abhängigkeit von ausbeuterischen Beziehungen dauerhaft überwinden und alternative Beziehungen zu ihnen aufbauen. Insofern strebte auch Gandhi danach, den Feind zu entfeinden.

Gandhi fand sein aus hinduistischen Traditionen entstandenes Konzept in Jesu Bergpredigt bestätigt, nachdem er es in Südafrika schon erprobt hatte. Er verstand Jesu Gebot der Feindesliebe als aktive, leidensbereite Überwindung einer Gewaltsituation, die Feindschaft produziert, und grenzte Satyagraha klar gegen westliche und christliche Deutungen einer bloß passiven Leidensannahme ab. Seine Ermordung durch einen religiösen Fanatiker stellte die Kraft der Gewaltfreiheit in Frage: Doch Gandhi nahm das Risiko des Todes als mögliche Konsequenz des Festhaltens der Wahrheit bewusst auf sich. Sein Beispiel kann daher als mögliche Praktizierung der Feindesliebe gelten.

[Bearbeiten] Buddhismus

In Buddhas Lehre (entstanden um 500 v. Chr.) ist das Überwinden von Feindschaft und Leid, das Entwickeln von Toleranz und Mitgefühl für alle Lebewesen zentral. So heißt es im Dhammapada aus dem Palikanon (Verspaar 3-5):

Er schmähte mich, er schlug mich, er besiegte mich mit Gewalt: Wer so denkt, der wird die Feindschaft nicht besiegen.
Er schmähte mich, er schlug mich, er besiegte mich mit Gewalt: Wer so nicht denkt, der wird Feindschaft besiegen.
Denn Feindschaft kommt durch Feindschaft zustande; durch Freundschaft kommt sie zur Ruhe; dies ist ein ewiges Gesetz.

In Vers 223 heißt es als Summe aus dem Vorangegangenen:

Besiege (erobere) Zorn durch Liebe.
Besiege Böses durch Gutes.
Besiege Anhaftendes (am Eigenen Festhaltendes) durch Geben.
Besiege den Lügner durch die Wahrheit.

Feindschaft lässt sich demnach nur durch Liebe gerade zum Feind auflösen. Dazu ist es nötig, ihre wechselseitige Entstehung (paticca samuppada) zu durchschauen: Jeder Mensch verletzt sich selbst mit dem, was er anderen antut, und fördert sein Glück mit dem, was er ihnen Gutes tut (Karma). Für diesen Lernprozess ist der Feind nötig. So verhilft gerade er zu Selbsterkenntnis und Selbstlosigkeit. Wo das erkannt wird, wird der Feind als eigentlicher Freund wahrnehmbar. Es wird möglich, Verantwortung für eigenes und fremdes Leid zu übernehmen und immer weniger ungelöste Konflikte auf andere zu projizieren.

Darum lehrte Buddha (der „Erwachte") Achtsamkeit, Barmherzigkeit, Geduld und leitet zum Loslassen von negativen Emotionen an, die Gewalt erzeugen. Seine Lehre ist auf den Geist des Einzelnen bezogen und hat das Erlöschen allen Anhaftens (Nirvana) zum Ziel. Feindesliebe trägt dazu bei und drückt wahre mitfühlende Natur aus. Diese erlaubt prinzipiell jedem fühlenden Wesen den Ausstieg aus dem Rad der ewigen Reinkarnation. Das üben Buddhisten in Meditation und sozialem Engagement.

Im heutigen Religionsdialog bieten sie ohne Missionsabsichten das gemeinsame Ein- und Ausüben von Feindesliebe an. Tenzin Gyatso, der heutige 14. Dalai Lama, die höchste Autorität des tibetischen Buddhismus, stellte in interreligiösen Kursen, Vorträgen und Buchveröffentlichungen wiederholt heraus, dass Jesu und Buddhas Lehren in wesentlichen Punkten identisch seien: Die Passage der Bergpredigt zur Feindesliebe (Mt 5,38-48) würde in einem buddhistischen Text nicht als christlicher Text auffallen. Er gibt Buddhas Lehren als hilfreiches Angebot an die Christen weiter, ihren eigenen Glauben im Alltag zu leben. Einer seiner Leitsätze dazu lautet: Für die Praxis der Toleranz ist der Feind der beste Lehrer.

[Bearbeiten] Judentum

[Bearbeiten] Hebräische Bibel

Der Tanach, die hebräische Bibel, verlangt die Überwindung von Feindschaft von jedem Angehörigen des Gottesvolks Israel im Gebot der Nächstenliebe. Es bezieht sich auf eine Situation, in der dem Angeredeten Unrecht geschehen ist. Die geforderte Reaktion lautet (Lev 19,17f):

Hasse Deinen Nächsten nicht in Deinem Herzen!
Sondern weise ihn auf das Recht hin, damit Du nicht seinetwegen Schuld auf Dich lädst.
Räche Dich nicht noch behalte Zorn gegen die Kinder Deines Volkes.
[Sondern] Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst: [Denn] Ich bin JHWH.

Der Feind ist und bleibt der Nächste: Darum wird in paradoxer Umkehrung der „natürlichen“ Logik die naheliegende Vergeltung für erlittenes Unrecht abgewiesen. Der davon Betroffene soll auf das Recht hinweisen, indem er auf Rache verzichtet. Denn damit würde er ebenfalls schuldig an seinem Nächsten. Versöhnende Zuwendung, nicht Vergeltung schafft Recht. Das macht jeden Juden für die Unterbrechung der Spirale von Hass, Rache, Zorn verantwortlich, die alle Angehörigen seines Volkes bedroht. Diese Spirale widerspricht unmittelbar Gottes Willen. Denn JHWH ist der Gott ganz Israels, der für dessen Leben und Zukunft eintritt, so dass jeder Jude ebenfalls für das Leben aller Juden einzutreten hat. Darum soll er - um seiner selbst willen - gerade den feindlichen Nächsten lieben und sich mit ihm aussöhnen.

Die Streitfrage, ob der Begriff des Nächsten hier bereits Ausländer einbezieht, wurde in der jüdischen Exegese seit Beginn der Talmud-Entstehung meist bejaht. Denn schon wenige Verse später weist das benachbarte Gebot der Fremdenliebe die Begrenzung der Nächstenliebe auf Mitjuden zurück (Lev 19,33-34; vgl. Dtn 10,19):

Den Fremdling, der bei Euch wohnt in Eurem Land, sollt Ihr nicht unterdrücken. Er soll wie ein Einheimischer unter Euch wohnen, und Du sollst [auch] ihn lieben wie Dich selbst; denn Ihr ward auch Fremdlinge in Ägypten. Ich bin JHWH, euer Gott.

Das verbietet die Versklavung von Ausländern, fordert ihren Schutz und ihre Gleichberechtigung in Israel und begründet dies aus dem Zentraldatum der israelitischen Heilsgeschichte, dem Exodushandeln Gottes. Auch dafür ist also jeder Jude als Vertreter ganz Israels verantwortlich.

Beide Gebote sind Teil einer Reihe in der Tora, die dem Dekalog ähnelt und wie dieser aus dem Gesamtauftrag des Judentums, dem Wesen und Willen Gottes zu entsprechen, begründet wird (Lev 19,2):

Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, JHWH, euer Gott.

Verschiedene Einzelgebote inner- und außerhalb der Tora konkretisieren das Verhalten gegenüber Feinden:

  • Ex 23,4f: Wenn Du dem Rind oder Esel Deines Feindes begegnest, die sich verirrt haben, so sollst Du sie ihm wiederbringen. Wenn Du den Esel Deines Widersachers unter seiner Last liegen siehst, so lass ihn ja nicht in Stich, sondern hilf mit ihm zusammen dem Tiere auf.
  • Spr 24,17: Freue Dich nicht über den Fall Deines Feindes, und Dein Herz sei nicht froh über sein Unglück.
  • Spr 25,21: Hungert Deinen Feind, so speise ihn mit Brot, dürstet ihn, so tränke ihn mit Wasser. So wirst Du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln und Gott wird´s Dir vergelten!

Juden sollen also die Notsituation eines Feindes nicht ausnutzen, sondern ihr abhelfen, so den Feind beschämen und zur Umkehr bewegen: Dieses auf sein, nicht das eigene Heil bedachte Handeln werde Gott belohnen. Ijob berief sich in seinem Appell an Gott auf eben diese Rechtschaffenheit. Er habe Feindes- und Fremdenliebe erfüllt (Hi 31,29-31):

Habe ich mich etwa gefreut, wenn es meinem Feind übel erging, und mich erhoben, wenn ihn Unglück getroffen hatte? Nein, ich ließ meinen Mund nicht sündigen, indem ich seine Seele mit keinem Fluch verwünschte...Kein Fremder durfte draußen nächtigen, sondern ich öffnete meine Tür dem Wanderer.

Dem stehen jedoch ebenso gewichtige biblische Gebote gegenüber, die die strikte Abgrenzung Israels von seinen Nachbarvölkern und die Vollstreckung von Gottes rächender Gerechtigkeit an ihnen verlangen [Beispiele].

Umso bedeutsamer ist, dass die Bibel auch die gewaltlose Beendung von Krieg kennt (2. Kön. 6, 8-23): Durch Gottes Geist führt der Prophet Elischa eine feindliche Übermacht in die Gefangenschaft, bereitet ein Festmahl für sie und lässt sie dann ziehen. Dieses aktive Segnen (vgl. Gen 12,3) beendet die Feindschaft zwischen Israel und seinen Nachbarn. Diese Zielrichtung verkündet die Exilsprophetie dann als Zukunftsperspektive Israels und aller Völker: Gott werde der Feindschaft, dem Krieg und der Gewalt unter ihnen ein Ende setzen (z.B. Jes 11,1-9). Darum wird der universale Schalom metaphorisch im Bild des Festmahls aller Völker dargestellt und schließt die Abschaffung des Todes ein (Jes 25,6-8; vgl. Off 7,17).

[Bearbeiten] Rabbinische Theologie

Die Chassidim, die Pharisäer und Rabbiner diskutieren den Geltungs- und Anwendungsbereich der Tora, besonders das Verhältnis des 1. Gebots zu den Sozialgesetzen seit etwa 200 v. Chr. intensiv und differenziert. Sie entwickelten verschiedene „Lehrmeinungen", die später in der Mischnah gesammelt und fixiert wurden. Konsens war jedoch sehr früh, dass Gottesfurcht und Nächstenliebe auf das Engste zusammengehören und einander bedingen, so dass nur auf das Wohlergehen des Nächsten bedachtes Handeln die Liebe zu Gott manifestiere und erfülle.

Im Jubiläenbuch (um 150 v. Chr.) ist die ganze Tora bereits auf das Doppelgebot der Liebe konzentriert. Jakob leistet dort den größten denkbaren Schwur als ethische Mahnung an alle Juden (nach Gerd Theißen, Der historische Jesus S. 343):

...dass ihr solche seid, die Ihn (Gott) fürchten und verehren, indem jeder seinen Bruder liebt in Barmherzigkeit und Gerechtigkeit.

Diese Zusammenfassung war in vorchristlicher Zeit ein festes Motiv geworden, wie etwa die apokryphen, aber auf ältere Tradition zurückgreifenden Testamente der zwölf Patriarchen zeigen:

  • TestDan 5,3: Liebet den Herrn in eurem ganzen Leben und einander mit wahrhaftigem Herzen.
  • TestIss 5,1f: Bewahrt nun, meine Kínder, Gottes Gesetz, ... liebt JHWH und den Nächsten, des Schwachen und Armen erbarmt euch.

TestSeb 5,1 weitete diese Mahnung ausdrücklich auf alle Menschen aus. Daher wurden auch Heiden zu den „Brüdern" gezählt (Seder Elijahu Rabba 49):

Du sollst deinen Nächsten nicht bedrängen (Lev 19,13). Dein Nächster, das ist dein Bruder, dein Bruder, das ist dein Nächster. Daraus lernt man, dass der Diebstahl am Heiden Raub ist. Und man darf nicht verstehen nur deinen Bruder, denn es geht um jeden Menschen.

Besonders Hillel (ca. 60 v. Chr. - 10 n. Chr.), damals einer der berühmtesten Schriftgelehrten, vertrat die Erfüllung aller sonstigen Gebote in diesem Doppelgebot und die Grenzenlosigkeit der Liebe Gottes, die alle Menschen einschließe (Sprüche der Väter 1,12):

Hillel sagte: Sei von den Jüngern Aarons, Frieden liebend und nach Frieden strebend, die Menschen liebend und sie der Tora zuführend.

Er leitete daraus wie Jesus u.a. die Erlaubnis ab, das Sabbatgebot zu brechen, um Leben zu retten. Von ihm stammt auch die Übersetzung des Gebots der Nächstenliebe mit der Goldenen Regel (bSchab 31a):

Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Gesetzeslehre, alles übrige ist nur Erläuterung, geh und lerne sie.

Philo von Alexandria (ca. 10 v. Chr. - 40 n. Chr.) sprach in SpecLeg II,63 von

...zwei Grundlehren, denen die zahllosen Einzellehren untergeordnet sind: in Bezug auf Gott das Gebot der Gottesverehrung und Frömmigkeit, in Bezug auf Menschen das der Menschenliebe und Gerechtigkeit.

Rabbi Akiba (ca. 50 - 135 n. Chr.) sah das Gebot der Nächstenliebe als Kern der Tora (Talmud Jeruschalmi, Nedarim 9,4; vgl. auch SLev 19,18), wobei er es wahrscheinlich auf Juden begrenzte. Doch spätestens seit dem 2. Jahrhundert schließen zahlreiche Stellen der rabbinischen Literatur den Feind nachdrücklich ein:

In keinem Fall, Bruder, darfst du deinem Nächsten für Böses Böses auch vergelten. Der Herr wird eine solche Überhebung rächen. (Joseph und Aseneth 28,14).
Sage nicht: die mich lieben, liebe ich und die mich hassen, hasse ich, sondern liebe alle! ... Wer seinen Nächsten hasst, gehört zu denen, die Blut vergießen. (Derech Erez Rabba 11).

Flavius Josephus (37-100), ein hellenistisch gebildeter jüdischer Feldherr im Aufstand der palästinischen Juden gegen die Römer, erklärte römischen Gegnern des Judentums später in Contra Apionem (2,212-214), wie genau und detailliert jüdische Gebote den Umgang mit Feinden auch im Krieg regelten, um so ihr Lebensrecht zu schützen:

Die Pflicht des Teilens mit anderen wurde durch unseren Gesetzgeber auch in anderen Belangen eingeprägt.
Wir müssen Feuer, Wasser und Essen zur Verfügung stellen für alle, die darum bitten.
Wir müssen sogar erklärten Feinden den Weg zeigen, ihre Körper nicht unbegraben lassen und Anteilnahme zeigen.
Gott erlaubt uns nicht, ihre Felder zu verbrennen und ihre Obstbäume zu fällen.
Er verbietet sogar das Behelligen von gefallenen Kriegern.
Er hat Maßnahmen getroffen, um Grobheiten an Kriegsgefangenen und besonders an Frauen zuvorzukommen.
Eine derart gründliche Lektion in Freundlichkeit und Menschenliebe hat er uns gegeben, dass er sogar das einfache Vieh nicht übersieht...
Bei jedem einzelnen Wesen achtete er auf die Barmherzigkeit, indem er darüber ein Gesetz herausgab, um die Prinzipien durchzusetzen und um Übertreten ohne Entschuldigung strafen zu können.

Die Feindesliebe hatte sich also gerade gegenüber unterlegenen und gefangenen Kriegsgegnern, die Not litten, ihren Frauen und ihrem Besitz zu bewähren und durfte ihr Leben und Land nicht zerstören, um das Weiterleben ihres Volkes nach Kriegsende nicht zu gefährden: Andernfalls würde Gottes strafende Gerechtigkeit den, der diese Barmherzigkeit verweigert, selbst ereilen. - Damit stellte Josephus den Römern die biblisch-jüdische Rechtstradition des Schutzes für die Schwachen vor Augen, die in scharfem Kontrast zu deren vernichtender, auf totale Unterwerfung ausgerichteten Kriegführung stand.

Der aus Galiläa, der damaligen Hochburg der Zeloten, stammende Rabbi Jesus von Nazaret hat erstmals ausdrücklich Feindesliebe geboten. Gerade er bestätigt die Verwurzelung dieses Konzepts im Glaubenszentrum des Judentums, der Erwählung zum Volk Gottes: Denn er leitete sein Gebot aus dem Toragebot der Nächstenliebe her und machte diese Erfüllung des Bundeswillens Gottes gegenüber Ausländern, Gewalttätern und Verfolgern der Juden geltend.

[Bearbeiten] Christentum

[Bearbeiten] Neues Testament

Im Neuen Testament heißt es in der Bergpredigt (Mt 5,43-45):

Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: 'Du sollst deinen Nächsten lieben, aber deinen Feind hassen.' Ich aber sage Euch: Liebet eure Feinde, segnet, die euch verfluchen, tut Gutes denen, die euch hassen, bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen: So werdet Ihr Kinder eures Vaters im Himmel sein.

Somit ist Feindesliebe eine Anwendung der Nächstenliebe in einer aktuellen Feindschaftssituation. Sie soll auch und gerade akute Feinde als Nächsten ansehen und behandeln. Wer die Feinde waren, zeigt der Kontext (Mt 5,38-42; vgl. Lk 6,27-38): Jesus verbot den durch Schläge Gedemütigten das Zurückschlagen und verlangte stattdessen, die Angreifer zu segnen, ihnen wohl zu tun, für sie zu beten (Mt) oder ihnen Kredit zu geben und auf Gerichtsverfahren, Gegengewalt und Rückforderung zu verzichten (Lk). Die Beispiele lassen Israels damalige Lage erkennen:

Will jemand mit dir rechten und deinen Rock nehmen, dem gib auch noch den Mantel.

Die Tora verbot Gläubigern die Enteignung eines verschuldeten Obdachlosen, der nur noch das Obergewand besaß und darin im Freien übernachten musste (Ex 22,25; Dtn 24,10-13). Jesu paradoxe Forderung soll den Gläubiger an dieses Lebensrecht seines Schuldners erinnern.

Wenn jemand dich nötigt eine Meile, mit dem gehe zwei.

Das Besatzungsrecht gestattete es römischen Soldaten, jeden Juden jederzeit zu Dienstleistungen wie dem Lasttragen zu nötigen (z.B. Simon von Kyrene Mk 15,21). Die doppelte Wegstrecke sollte den Peiniger mit unerwartetem Entgegenkommen verblüffen und ihm Zeit geben, sein Opfer besser kennenzulernen. Die „Feinde“ waren also die Besatzer, Ausbeuter und Verfolger des täglich unterdrückten Volkes der Armen, an das sich die Bergpredigt wendet (Mt 5,1.3-10).

Jesu Gebot entstammt jüdischer Tradition und wird hier wie folgt begründet (Mt 5,45-48):

Denn Er lässt seine Sonne aufgehen über die Bösen und die Guten und lässt es regnen über Gerechte und Ungerechte. Wenn ihr also nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr davon? Tun die Zöllner nicht dasselbe? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr damit Besonderes? Handeln die Andersgläubigen nicht genauso? Darum seid vollkommen, ebenso wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.

Das weist auf Gottes Wesen hin: Der barmherzige Segen des Schöpfers galt von Anfang an allem Leben (Gen 8,22). Demgemäß wollte Jesus Juden und ihre Feinde - genannt werden Steuereintreiber und Fremdgläubige, damals die Römer - gemeinsam zu „Kindern Gottes“ machen und so Gottes Vollkommenheit abbilden. Demgemäß stellte er Nächstenliebe mit Gottesfurcht gleich (Mk 12,28-34).

Matthäus begründete Jesu Gebot mit Israels und der Nachfolger Auftrag, „Licht der Welt“ zu sein (Mt 5,14) und formulierte es als „Antithese" zu einem Gebot Du sollst deinen Nächsten lieben, aber deinen Feind hassen, das in der jüdischen Tradition unbekannt ist (Mt 5,43f). Nur die Ordensregel von Qumran und antike Umwelt verlangten Feindeshass. Heutige Exegese geht daher davon aus, dass der Kontrast nicht von Jesus stammt.

Aber Zeloten und Römer praktizierten gegenseitig Vergeltung im jüdischen Freiheitskampf. Deren selbstzerstörende Folgen wollte der gebotene Gewaltverzicht abwenden (Mt 7,1 und Lk 6,37):

Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!

Jesus lebte dies vor. Seine Tempelreinigung (Mk 11,15-17) war ein Akt der Aggression gegen den Opferkult: Er griff damit die trennende Feindschaft zwischen Israel und den Völkern an, um allen Menschen Zugang zu Gott zu eröffnen. Bei seiner Festnahme aber leistete er keine Gegenwehr und verbot sie seinen Jüngern (Lk 22,51). Im Verhör vor Kaiphas (Jh 18,23) und Pilatus (Mk 15,1-4) nahm er nur geltendes Recht in Anspruch. Er begehrte keine Rache, sondern bat Gott noch am Kreuz um Vergebung für seine Mörder (Lk 23,34) und solidarisierte sich mit allen Unrecht Leidenden (Mk 15,34/Zitat von Ps 22,2 und Jes 53).

Darum verkündete die urchristliche Theologie gerade Jesu Tod als Überwindung der Feindschaft zwischen Juden und Heiden (Eph 2,13f) und verstand Feindesliebe als Zeugnis davon, das bis zum Martyrium gehen konnte.

Paulus von Tarsus, der älteste und einzige authentische Zeuge des Urchristentums, verstand Jesu Gebot als Verzicht auf Rache und Gegengewalt an römischen Verfolgern (Röm 12,21) im Sinne des Alten Testaments (Spr 25,21). Er bestätigte also die Übereinstimmung des Gebots Jesu mit biblischer Tradition. Er begründete es mit Jesu stellvertretendem Tod, in dem sich für ihn Gottes zuvorkommende Liebe ereignete (Röm 5,6-8):

Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Feinde waren...Denn wenn wir mit Gott versöhnt sind durch den Tod seines Sohnes, als wir noch Feinde waren, um wieviel mehr werden wir selig werden durch sein Leben, nachdem wir nun versöhnt sind!

Feindesliebe entspricht für Paulus also dem, was Gott durch Jesus Christus zuerst für seine Feinde, die Gott-losen - alle Menschen - getan hat.

In anderen NT-Schriften zeichnet sich eine Relativierung der Feindesliebe ab. Lukas stellte das Gebot in den Kontext der reziproken „Goldenen Regel“, die er vor allem auf den Besitzausgleich zwischen Arm und Reich innerhalb christlicher Gemeinden bezog (Lk 6,31.38):

So wie ihr wollt, dass euch die Menschen behandeln, so tut ihnen auch!

Später wurde es auf Bruderliebe reduziert (Joh 4,21), wobei auch „Brüder“ tendenziell alle Menschen einschloss.

[Bearbeiten] Christliche Theologie

Die großkirchliche Theologie fasste Feindesliebe seit der Konstantinischen Wende nicht mehr als selbstverständlichen Bestandteil der Nachfolge Jesu auf, sondern als unerreichbares Vollkommenheitsideal:

  • in der katholischen Zwei-Stufen-Ethik: für eine moralische Elite (Mönchtum), die dieses Ideal stellvertretend für die Mehrheit der Getauften anstrebt,
  • in der lutherischen Gesetzespredigt: als Spiegel der menschlichen Sünde, die allen Menschen ihr Angewiesensein auf Gottes Gnade bewusst mache.

In der Kirchengeschichte wurde Feindesliebe daher oft auf Sündenvergebung reduziert. Sie wurde zu einer kirchlichen Gnadengabe, ohne das tatsächliche Verhalten der Christen zu verändern und gesellschaftliche Herrschafts- und Gewaltverhältnisse in Frage zu stellen. Sie wurde demzufolge von Christen oft nicht nur unzureichend geübt, sondern - mit bekannten historischen Folgen - missachtet: ganz besonders gegenüber Jesu Volk, den Juden.

Herkömmliche christliche Exegese betont meist die Radikalisierung und tendenzielle Aufhebung der jüdischen Tora: Jesus übertreibe tradiertes Recht, um Gottes wahren, auf die Wandlung des Herzens zielenden Willen bewusst zu machen. Es gehe ihm immer um die Grundeinstellung zum Mitmenschen. Sein „Feind“-Begriff unterscheide nicht zwischen persönlichem (griechisch echtros) und kollektivem Gegner (polemios) oder ethnisch Fremdem.

Dabei wirkt oft das antijüdische Fehlurteil nach, erst Jesus habe die Nächstenliebe universalisiert und entgrenzt, um Gottes Liebe allen Menschen zukommen zu lassen (Joh 13,34). Die traditionelle kirchliche und neuzeitliche Auffassung, dass das Judentum keine Feindesliebe kenne und eine Religion des reinen Vergeltungsprinzips (Auge für Auge) sei, hat sich erst seit 1945 durch den jüdisch-christlichen Dialog und neuere Forschungen stark relativiert und wird als Erbe des christlichen, von der Aufklärung zum Teil übernommenen Antijudaismus betrachtet.

Heutige Exegeten wie Luise Schottroff (Gewaltverzicht) oder Gerd Theißen (Der historische Jesus) betonen im Einklang mit jüdischen Auslegern wie Pinchas Lapide (Entfeindung leben?) dagegen,

  • dass Feindesliebe Jesus nicht von früherer und paralleler rabbinischer Theologie unterschied, sondern auf ihrem Boden gewachsen ist,
  • dass Jesu Gebote das Leben im Reich Gottes vorwegnehmen, aber nirgends Unerfüllbarkeit voraussetzen, sondern Erfüllung von allen Nachfolgern erwarten (Mt 7,21ff),
  • dass das Gebot als praktische Anleitung zu einem gewaltlosen „Entfeinden“ in einer Situation der Unterdrückung verstanden sein will.

Als Wahrung der eigenen Chancen gegenüber militärischer Übermacht war Gewaltverzicht für die verarmte Bevölkerung in Israel seit Daniels Apokalyptik (ca. 170 v. Chr.) plausibel. Flavius Josephus (Bellum Judaicum) etwa beschrieb erfolgreiche gewaltlose Demonstrationen gegen Maßnahmen des Pilatus, die diesen zum Einlenken zwangen. Theißen folgerte daraus:[1]

Das von Jesus geforderte Verhalten ist kein passives Sich-Ausliefern an das Böse, sondern ein aktives, gewaltfreies Widerstehen von Machtlosen mit dem Ziel, Unrecht [der Mächtigen] zum Bewusstsein zu bringen und zu überwinden. Gegenüber nationalen Feinden liegt eindeutig eine Alternative zu zelotischen Widerstandskonzepten und apokalyptischen Endkampfphantasien vor, die jedoch keineswegs singulär war.

Dietrich Bonhoeffer betonte 1936 jedoch, dass Jesus keine kurzfristige Veränderung der Feinde erwartete, sondern die selbstlose Hingabe (Agape) an ihr Heil lehrte und vorlebte. Er sah das Gebot der Feindesliebe im engsten Zusammenhang mit Jesu freiwilligem Tod:[2]

Die Feindesliebe führt den Jünger auf den Weg des Kreuzes und in die Gemeinschaft des Gekreuzigten. Aber je gewisser der Jünger auf diesen Weg gedrängt wird, desto gewisser bleibt seine Liebe unüberwunden, desto gewisser überwindet sie den Hass des Feindes; denn sie ist ja nicht seine eigene Liebe. Sie ist ganz allein die Liebe Jesu Christi, der für seine Feinde zum Kreuz ging und am Kreuz für sie betete. Vor dem Kreuzesweg Jesu Christi aber erkennen auch die Jünger, dass sie selbst unter den Feinden Jesu waren, die von seiner Liebe überwunden wurden. Diese Liebe macht den Jünger sehend, dass er im Feind den Bruder erkennt, dass er an ihm handelt wie an seinem Bruder.

[Bearbeiten] Islam

Im Islam ist der Begriff der Feindesliebe unbekannt. Koranverse, die zu Mäßigung und Nachsicht aufrufen, beziehen sich auf das Binnenverhältnis zwischen Muslimen oder zu Andersgläubigen, die sich dem Islam unterworfen haben. Eine pazifistische Grundhaltung findet sich selten, z. B. bei synkretistischen Gruppierungen des Sufismus, die aus der Liebe zu Gott und der Einheit des Schöpfers mit der Schöpfung eine allgemeine Liebe zu allen Geschöpfen ableiten. In der islamischen Welt sind solche Gruppen meist Verfolgungen ausgesetzt (vgl. z. B. die den Dschihad ablehnende, aber nicht dem Sufismus zuzuordnende Ahmadiyya). In Sure 48:30 heißt es z.B.: "Mohammed ist der Gesandte Allahs. Und die mit ihm sind, hart sind sie wider die Ungläubigen, doch gütig zueinander" Als Ungläubige sind alle Nicht-Moslems oder deren politisch Verbündete zu bezeichnen. Wenn sich jemand vom Islam abwendet, gilt Sure 4,89 zu beachten: "... und wenn sie sich abkehren, dann ergreift sie und tötet sie, wo immer ihr sie auffindet."

[Bearbeiten] Neuzeit: Vernünftige Ethik und Kritik

Die aufgeklärte Philosophie hat gegen die mittelalterliche Dominanz der kirchlichen Theologie versucht, die Grundlagen der Ethik im autonomen Subjekt zu verankern. Besonders Immanuel Kant hat dazu jüdisch-christliche in allgemeine humane Handlungsmaximen übersetzt. Sein „Kategorischer Imperativ" gibt der in allen Weltreligionen bekannten „Goldenen Regel" - behandle Andere so, wie Du behandelt werden willst - eine rationale Basis:

Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.

Alles hängt hier vom Primat des „guten Willens" im Einzelnen ab. Inwiefern nicht nur Nächstenliebe, sondern auch Feindesliebe eine allgemeine Handlungsmaxime werden kann, ist jedoch fraglich: Denn sie zielt nicht primär auf ein wechselseitiges, vernünftig einsehbares Verhalten, das auf der Einsicht in das gemeinsame Selbsterhaltungsinteresse beruht, sondern auf ein selbst-loses, einseitiges „Zuvorkommen", das das Wohl des Feindes im Blick hat und erst so eine neue Situation für beide schafft.

Friedrich Nietzsche hat sich scharf vom jüdisch-christlich geprägten idealistischen Moralismus abgegrenzt und stattdessen den „Willen zur Macht" postuliert. An die Stelle des „Kultes des Gekreuzigten" setzte er bewusst den Kult des „Übermenschen". Auch der Satanismus nach Anton Szandor LaVey stellt sein Glaubenssystem ausdrücklich gegen Juden- und Christentum. Er betrachtet Nächsten- und Feindesliebe als Negation des natürlichen Selbsterhaltungstriebes und propagiert - ähnlich wie der Sozialdarwinismus - Selbstbehauptung auch gegen Feinde.

Sigmund Freuds Psychoanalyse kritisierte Jesu Gebot als inhumane Überforderung und übersteigerten Altruismus. Ihm folgend, sah die US-amerikanische Theologin und Psychologin Rosemary Radford Ruether darin sogar eine Wurzel des christlichen Antijudaismus: Die Kirche habe, da sie mit Feindesliebe überfordert war, nicht einmal Nächstenliebe geübt, sondern sich an den Juden für ihr eigenes Versagen gerächt. Eine tiefe Schuldprojektion der christianisierten Völker sei für den Holocaust mitverantwortlich. Diese Thematik spielt im heutigen jüdisch-christlichen Dialog seit 1945 eine zentrale Rolle.

Andererseits zeigte in den USA Martin Luther King, dass Feindesliebe in einer Situation der Unterdrückung gerade keine Selbstaufgabe bedeutet, sondern als gewaltfreier Widerstand der Unterdrückten eine Unrechtssituation tatsächlich verändern kann. Als Baptist lernte King von Gandhi, die Wahrheit in der Feindschaftssituation aktiv festzuhalten. Wie dieser verlor er dadurch sein Leben.

Universalistische Ethik-Entwürfe nach 1945 beziehen sich oft gerade auf diejenigen religiösen Wurzeln zurück, die nicht nur eine veränderte innere Einstellung, sondern auch ein neues politisches und soziales Verhalten anregen und lehren. Dahinter steht oft nach wie vor jüdische und christliche Tradition: etwa bei Emmanuel Levinas „Denken und Leben vom Anderen her" und Albert Schweitzers „Ehrfurcht vor dem Leben".

Einen weiter gefassten Ansatz verfolgt das Projekt „Weltethos" von Hans Küng: Hier wird versucht, die Ethik aller Weltreligionen in wenige gemeinsame, einfache Grundregeln zu integrieren und diese zeitgemäß für eine zukünftige menschengerechte, ökologische und soziale Weltordnung zu entfalten. Dabei ergibt sich aus dem Gebot der Feindesliebe ein Impuls für den Dialog verschiedener Glaubensrichtungen. Fraglich bleibt jedoch, ob das Besondere dieses Konzepts, nämlich die zuvorkommende Entfeindung ohne Rücksicht auf die Selbsterhaltung, eine allgemein akzeptierte und tragfähige ethische Basis aller Weltreligionen werden kann.

[Bearbeiten] Aktuelle Bedeutung

Die intensive Auseinandersetzung der Neuzeit mit jüdisch-christlichen, seltener auch mit islamischen und fernöstlichen Traditionen hat auf das Verständnis der Feindesliebe in der gegenwärtigen Theologie zurückgewirkt. Besonders deutschsprachige Theologen (siehe Literatur) greifen Kritik an inhumanen Folgen missverstandener Feindesliebe auf und betonen stärker als früher:

  • Jesu Gebot verlange keine unnatürliche Sympathie zu Unrechtstätern, kein bloßes Nachgeben des „Klügeren", keine heroische Selbstaufgabe, sondern eine gezielte Überwindung von Feindschaft.
  • Feindesliebe meine kein Dulden von Unrecht und Verleugnen der eigenen Aggressionen, sondern den aktiven risikobereiten Abbau von Hass, Feindbildern und Gewaltursachen.
  • Sie gebe dem Heil der Feinde Vorrang und wolle so auch die Bedrohten schützen. Das könne in einer Verfolgungssituation aber auch zum Selbstopfer führen.

Gerade jüdische Theologen wie Pinchas Lapide heben die besondere Situation hervor, in der Feindesliebe vernünftig erscheint: Jesu Gewaltverzicht habe die Chancen für seine Nachfolger wahren wollen, eine macht- und rechtlose Lage langfristig zu verändern, indem sie strikt auf Gegengewalt verzichteten. Jesus sei dabei nicht passiv geblieben, sondern aktiv vorangegangen (lateinaggredi“). Feindesliebe sei also keine passive Hinnahme von Unrecht, sondern ein bewusster aktiver Gewaltverzicht, der souverän auf Feinde zugehe, um Feindschaft abzubauen. Damit lasse sich das Gewaltopfer die Wahl der Mittel nicht vom Gegner aufzwingen, weil Vergelten mit Gleichem unter Ungleichen nur zum Untergang führe. Dabei werde das Ziel eines gerechten Zusammenlebens gerade nicht aufgegeben, sondern von den von Gewalt Betroffenen für ihre Feinde mit bewahrt. Jesus habe noch in seinem Leiden vorgelebt, die üblichen Reaktionsmuster zu brechen, aus dem Teufelskreis der Gewalt auszusteigen.

Die Besonderheit der Feindesliebe, der Angriff auf die Gewaltursachen und die zielstrebige Überwindung von Feindschaft, wird häufig gerade in nichtreligiösen Theorien aufgegriffen:

  • So hat z.B. der norwegische Friedensforscher Johan Galtung ausgehend von der Idee des prinzipiellen Gewaltverzichts neue politische Konfliktlösungsstrategien entworfen.
  • Aus historischen Erfahrungen wie dem Kapp-Lüttwitz-Putsch oder dem Prager Frühling hat der deutsche Historiker Theodor Ebert eine Theorie der sozialen Verteidigung entwickelt.
  • In den USA schlägt der Soziologe Jonathan Schell heute eine Alternative zum "Antiterrorkrieg" der Gegenwart vor, die sich ausdrücklich auf die Bergpredigt, Gandhi und King beruft.
  • Marshall B. Rosenberg hat die Gewaltfreie Kommunikation entwickelt und gezeigt, wie man die Kommunikation verbessern kann und so den Feind erst gar nicht entstehen lässt.
  • Martin Arnold hat mit seiner Forschung über Gütekraft viele Beispiele von Gewaltlosigkeit im Sinne Gandhis gesammelt.

Feindesliebe wird als ethische Grundhaltung oft gerade von Menschen, auch Atheisten, verstanden und bejaht, die sich dem Pazifismus verbunden fühlen. Sie dient mitunter dazu, ihre Ablehnung jedes, auch eines „gerechten “ Krieges zu begründen. Sie ist aber keineswegs nur für Pazifisten gültig und relevant, sondern für alle Menschen, die Feindschaft erfahren. Das Gebot kann daher je nach Umständen verschieden befolgt werden, auf Dauer aber nur mit dem „Feind" gemeinsam: Es sucht Konflikte beharrlich mit ihm, nicht ohne und gegen ihn zu lösen. Dieses Konzept ermöglicht Opfern, ihre Ohnmacht zu überwinden, und Tätern, ihre Opfer als Menschen zu sehen. Es kann beider Menschlichkeit wiederherstellen. Es enthält Kampf, Leiden und Rückschläge, hat aber Aussicht, die Feindsituation langfristig zu überwinden. Es bringt Gegner auf einen gemeinsamen Weg, der zur Versöhnung führen kann.

Das Beispiel Dietrich Bonhoeffers, der vom Pazifisten zum Widerstandskämpfer gegen das nationalsozialistische Terrorregime wurde, hat bleibend darauf aufmerksam gemacht, dass sich Feindesliebe nicht restlos in vernünftige Verhaltensregeln integrieren und pragmatisch realisieren lässt. Denn nach menschlicher Erfahrung besiegt Liebe Feindschaft nur sehr selten: Prinzipieller Gewaltverzicht könne daher unter bestimmten Umständen gerade den Sinn des Gebots verfehlen, da Feindesliebe die Solidarität mit den Opfern unmenschlicher Gewaltherrschaft voraussetze. Feindesliebe bleibe daher auf genuin theologische Begründung angewiesen. Jesu Selbsthingabe wolle Gottes Feindesliebe für alle Menschen bezeugen: Für ihn könne allein dieses Gottvertrauen Hass, Gewaltherrschaft und unnötiges selbstverursachtes Leid überwinden.

[Bearbeiten] Quellen

  1. G. Theißen, Der Historische Jesus S. 349
  2. D. Bonhoeffer, Nachfolge S. 92

[Bearbeiten] Siehe auch

[Bearbeiten] Literatur

Quellen

Jüdische und christliche Ethik

Hinduistische, buddhistische und islamische Ethik

Philosophische Ethik

Friedenspolitik

  • Hans Küng (Hrsg.), Dieter Senghaas (Hrsg.): Friedenspolitik. Ethische Grundlagen internationaler Beziehungen. Verlag Piper, München (2003)
  • Theodor Ebert: Soziale Verteidigung I. Historische Erfahrungen und Grundsätze der Strategie. Waldkircher Verlag, Waldkirchen, Juli 1996, ISBN 3878850530
  • Johan Galtung: Friede mit friedlichen Mitteln. Opladen, Leske und Budrich (1998)
  • Johan Galtung: Neue Wege zum Frieden - Konflikte aus 45 Jahren: Diagnose, Prognose, Therapie. Minden, Bund für soziale Verteidigung (2003)
  • Jonathan Schell: Die Politik des Friedens. Carl Hanser Verlag (2003)

[Bearbeiten] Weblinks

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