Orthorexia nervosa

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Die Orthorexia nervosa oder eingedeutscht die Orthorexie ist ein 1997 von Dr. Steven Bratman erstmalig beschriebenes Konzept einer Essstörung. Aktuell (2006) ist das Krankheitsbild noch nicht in die Klassifikationen nach ICD oder DSM-IV aufgenommen worden. Bratman, der nach eigenen Angaben selbst an Orthorexie, dem krankhaften Gesundessen, gelitten habe, bildete in Anlehnung an die Magersucht oder Anorexia nervosa den Begriff der Orthorexia nervosa (griechisch ορθορεξία, von ορθός, orthós, „der richtige“ und όρεξη, órexi, „Appetit“).

An dieser Störung Erkrankte verbringen laut Bratman mehrere Stunden täglich damit, zwanghaft Vitamingehalt und Nährwerte zu berechnen und Lebensmittel auszuwählen, wobei sich die Auswahl der „erlaubten“ Lebensmittel immer mehr verringere. Der Genuss am Essen schwinde, weil die Gedanken nur noch um das Essen, Kalorienzählen, Vitamine, Mineralstoffe und um die Gesundheit kreisen. Die Betroffenen seien oft junge Menschen, meist Frauen zwischen 20 und 40 Jahren, die große Angst vor als ungesund geglaubten Lebensmitteln wie Milchprodukten, Brot, Eiern, generell gekochten Speisen hätten.

An Orthorexia erkrankte Menschen leben häufig vegan und verzichten neben Fleisch oft auch auf Milchprodukte, Eier, Kaffee und Alkohol.

Meist kommt es im Verlauf der Krankheit zu niedrigem Körpergewicht undsozialer Isolation, da aus Selbstgerechtigkeit und vermeintlicher moralischer Überlegenheit Gesellschaften gemieden werden, in denen die Erkrankte nicht mitessen können. In der Terminologie der häufig in sektenartigen Strukturen verbundenen Orthorektiker werden gesunde Menschen häufig als „Schlechtkostesser“ bezeichnet. Im deutschen Sprachraum finden sich Beispiele für schwere Verläufe der Orthorexie mit ausgeprägtem Missionierungsdrang, eindringlicher Terminologie und massiver Propaganda in der Szene der so genannten Urkost- und Sonnenkostesser. Orthorektiker dieser Ideologien scheuen teils nicht davor zurück, ihrer Kost die Heilung sämtlicher Krankheiten und die Verlängerung der Lebenserwartung auf 200 Jahre zuzuschreiben, exemplarisch sei hier der "Große Gesundheits Konz" genannt, der die Heilung von Krebs, HIV/AIDS, Multipler Sklerose und vielen anderen Erkrankungen für seine UrKost in ANspruch nimmt.

Die Orthorexia nervosa weist außerdem noch Merkmale einer Zwangsstörung und des Wahnes auf, weshalb die Differenzierung dieser Krankheitsbilder nicht immer einfach fällt, da zudem auch viele Zwischen- und Mischformen existierten, in denen ein grenzwertig gestörtes Ess- und Sozialverhalten über den Verlauf der Krankheit zum Vollbild der Orthorexie führt. In der Literatur und im Internet werden Patienten beschrieben, die sich jahrelang nur von wildwachsenden Pflanzen und importierten Früchten ernährt haben sollen bzw. behaupten, dadurch zu uneingeschränkter Gesundheit gefunden zu haben. Beispiele: [1]

Zudem gibt es heute Versandstrukturen, die Orthorektiker ganz gezielt mit angeblich "reiner" Nahrung versorgen, wobei oft hohe Preise bezahlt werden, um per Luftfracht aus Frankreich importierte Mangos, Sapotillen, Durian oder Jackfrüchte per Paketdienst nach Hause geliefert zu bekommen [2]

Im Sinne der Orthorexie werden selbst gravierende Mangelsymptome wie Untergewicht, Anämie, Amenorrhö, Impotenz oder Haarausfall als Folgen der, in Wirklichkeit nicht stattfindenden, „Entgiftung“ gesehen.Der Orthorektiker bezeichnet Krankheitszustände unter orthorektischer Ernährung stets als sog. "Heilungskrise", sodass die Erkrankung als Folge der früheren Normalkost, die erholung jedoch als Folge der orthorektischen Ernährung gesehen wird. Diese krankhafte Umdeutung führt zusammen mit der durch den Missionierungsdrang einhergehenden Isolierung zur zunehmenden Chronifizierung der Erkrankung. Wie bei der Anorexia sind Todesfälle dokumentiert.

[Bearbeiten] Kritik

Inhaltlich lässt sich Bratmans Konzept nach Meinung der Kritiker schwer als eigene Krankheitsentität auffassen, da

• die Kernthese eines krankhaften Essens gesunder Nahrung in sich widersprüchlich scheinen soll und ohne nähere konkretere diagnostische Kriterien eher unter Exzentrizität oder Weltanschauung zu subsumieren ist bzw. ggf. als negatives Konstrukt, übertriebenes Vermeiden „schädlicher“ Nahrungseinflüsse, unter einer Nosophobie (Angst, Krankheiten zu bekommen). Recherchen in der öffentlich zugänglichen Orthorexieszene im deutschsprachigen Internet zeigen jedoch schnell Postings und Meinungsäußerungen, die über Exzentrizität weit hinausgehen. So wird z.B. behauptet, der Verzehr zubereiteter Nahrung sei eine Sucht.
• Auch eine danach evtl. auftretende Einengung des Nahrungsspektrums und Abmagerung stünde der Anorexia nervosa differezialdiagnostisch so nahe, dass eigens dafür keine eigene Krankheitsentität formuliert werden müsste. Die Orthorexie zeigt jedoch Verhaltensmuster, z.B. den Missionierungsdrang und den Überlegenheitswahn, der der Anorexia nervosa fehlt.
• Auftretender Missionierungseifer oder politisch-weltanschauliche Einengung und Radikalisierung in Bezug auf Nahrung und Essgewohnheiten wären eher Symptome von allgemeineren Persönlichkeitsstörungen als gute Charakteristika zur Differenzialdiagnose gegenüber anerkannten Essstörungen. Hierbei bestehen auch Parallelen zu gängigen esoterischen Argumentationsmustern und Auffassungen, die aber als solche von der Psychiatrie nicht immer als krankhaft aufgefasst werden, da sie als (noch) normale kulturelle Ausformungen der Weltanschauung gelten.
• Zwanghaftes und umständliches Beschäftigen mit Nahrung und Nährwerten kommt auch im Rahmen von Bulimia und Anorexia nervosa vor und trägt allein für sich stehend Züge einer klassischen Zwangserkrankung.
• Es gibt Behauptungen, dass Bratman dieses Konzept als wissenschaftlichen Witz oder publikumswirksam überspitzte Parodie publiziert haben könnte ^[1].

Sozial kann man bei Ernstnehmen von Bratmans Thesen eine Stigmatisierung von nicht notwendigerweise als krank anzusehenden Personen (eben als Orthorektiker/innen) kritisieren. Man kann aber seine Thesen auch als gelungenen Denkanstoß über Verhaltensauffälligkeiten aus ehrenwerten Motiven heraus („sich dadurch verrennen, das Richtige zu sehr zu wollen“) lesen.

[Bearbeiten] Quellen

1. ↑ http://www.metroactive.com/papers/metro/08.02.01/eating1-0131.html Interviewteile bei Metroactive.com (englisch): Mary Spicuzza, Consuming Passions, "From the August 2-8, 2001 issue of Metro, Silicon Valley's Weekly Newspaper"