Reutlinger Straßenbahn
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Die Reutlinger Straßenbahn war ein zunächst mit Dampflokomotiven, ab 1912 elektrisch betriebener Straßenbahnbetrieb mit 1000 mm Spurweite, der von 1899 bis 1974 die Stadt Reutlingen mit ihren Vororten verband.
Inhaltsverzeichnis |
[Bearbeiten] Geschichte
Beim Bau der 1892 in Betrieb genommenen Eisenbahnstrecke von Reutlingen über Honau nach Kleinengstingen, der so genannten Schwäbischen Albbahn, war die Gemeinde Eningen nicht berücksichtigt worden. Zwar bekam der spätere Reutlinger Südbahnhof zunächst die Bezeichnung "Eningen u. A.", er war jedoch zu weit weg vom Ort und konnte die Verkehrsbedürfnisse der Eninger Bevölkerung nicht befriedigen. Auf Initiative der Gemeinde baute daher der Innsbrucker Bahnunternehmer von Schwind eine als Dampfstraßenbahn betriebene Lokalbahn zwischen dem Staatsbahnhof Reutlingen und Eningen. Am 1. November 1899 wurde die Strecke feierlich eröffnet. Mit drei Dampflokomotiven der Münchner Lokomotivfabrik Krauss, 10 Personenwagen und einem Gepäckwagen wurde der Betrieb eröffnet. Während zwischen Eningen und dem Reutlinger Südbahnhof eine eigene Trasse erbaut wurde, lagen die Gleise in Reutlingen weitgehend im Straßenraum und führten durch die Gartenstraße zum Bahnhof.
Trotz guter Nachfrage machte die Bahn jedoch fast von Beginn an Verluste. Von Schwind trat deswegen schon 1903 die Bahn an die Gemeinde Eningen ab. Doch auch unter kommunaler Regie blieben die Verluste hoch. Ab 1908 wurden in Reutlingen Pläne für eine elektrische Straßenbahn gemacht. Diese Gelegenheit wollte Eningen nutzen und die Lokalbahn an die Württembergische Eisenbahn-Gesellschaft (WEG) verkaufen, welche die Strecke als Basis der geplanten Straßenbahn erwerben wollte. Querelen beim Grunderwerb verhinderten aber zunächst weitere Pläne, erst 1911 konnte der Verkauf abgeschlossen werden.
Die WEG begann zügig mit dem Umbau der alten Lokalbahn und verlängerte die Strecke von Reutlingen in den westlichen Vorort Betzingen. Gleichzeitig wurde die gesamte Strecke mit Oberleitung versehen. Am 24. Juli 1912 wurde die Straßenbahn Eningen - Reutlingen - Betzingen feierlich eröffnet. In Reutlingen war die Bahn dabei teilweise völlig neu aufgebaut worden, so wurde die Strecke aus der eher abseits der Innenstadt gelegenen Gartenstraße in die Wilhelmstraße und über den Marktplatz verlegt. Gleichzeitig wurde auch der Güterverkehr vom Südbahnhof nach Eningen auf Rollböcken aufgenommen. Neben den Triebwagen für den Personenverkehr beschaffte die WEG daher auch eine elektrische Lokomotive.
Die Gemeinde Pfullingen hatte ursprüngliche Pläne, eine Zweigstrecke der Straßenbahn von Reutlingen nach Pfullingen zu bauen, blockiert. Erst ein Schuhfabrikant, der den Neubau einer Fabrik vom Bau der Straßenbahn abhängig machte, sorgte im Gemeinderat für ein Umdenken. 1916 wurde schließlich die am Südbahnhof abzweigende Strecke nach Pfullingen für Personen- und Güterverkehr eröffnet. Alle Strecken wurden eingleisig und mit Ausweichen gebaut.
Nach Ende des 1. Weltkriegs wurden in Reutlingen Pläne zur weiteren Erschließung des Umlands gewälzt. Nach intensiven Diskussionen mit den Nachbargemeinden entschied sich die Stadt Reutlingen, eine Strecke von Reutlingen über Rommelsbach und Oferdingen nach Altenburg zu bauen. Die WEG übernahm für die Stadt Verwaltung und Betrieb. Am 1. August 1928 wurde die Strecke schließlich eröffnet. Schon die erste Abrechnung der WEG sorgte allerdings für derartige Unstimmigkeiten mit der Stadt, dass sich diese 1930 entschloss, den Betrieb in eigene Regie zu übernehmen. Damit gab es zwei völlig unabhängige Straßenbahnbetriebe in Reutlingen.
Die städtische Linie arbeitete allerdings ebenso wie die WEG-Strecken mit Verlust. Die Stadt entschied sich daher dazu, die WEG-Strecken zu übernehmen, um ein einziges rentableres Unternehmen zu haben. Aufgrund des 1912 mit der WEG vereinbarten Kündigungsschutzes von 30 Jahren konnte erst mitten während des 2. Weltkriegs, 1944 das WEG-Netz in den endgültigen Besitz der Stadt übergehen, am 1. März diesen Jahres erfolgte die offizielle Übergabe. Damit waren alle 18,3 Strecken-km der Straßenbahn im Besitz der Stadt.
Der Krieg brachte in der Innenstadt bis nach Betzingen zerstörte Oberleitungen und verschiedene Gleisschäden durch Bombenangriffe. Die Fahrzeuge blieben dank der weit außerhalb liegenden Betriebshöfe in Eningen und Oferdingen weitgehend unbeschädigt. Ende 1945 konnten wieder alle Strecken befahren werden. 1949 wurde eine erste Buslinie eröffnet
Das Streckennetz wurde am 12. September 1964 durch die kurze Stichstrecke nach Orschel-Hagen nochmals erweitert. Mit 19,5 km Streckenlänge hatte die Reutlinger Straßenbahn die größte Länge ihrer Geschichte erreicht. Davon lagen immerhin 12,8 auf eigenem Gleiskörper außerhalb des Straßenraums. Da allerdings alle Strecken eingleisig waren, mussten die Bahnen oft an Ausweichen auf den Gegenzug warten. Dieses System verursachte lange Fahrtzeiten und dadurch einen relativ hohen Fahrzeugbedarf. Auch hatte die Bahn eine systematische Erneuerung ihres Fahrzeugparks versäumt, der weitgehend durch personalaufwändige zweiachsige Triebwagen mit bis zu drei Beiwagen geprägt wurde. Entsprechend stiegen die Verluste an, obwohl rund 8 Millionen Menschen pro Jahr die Straßenbahn als Transportmittel nutzten. Gutachter empfahlen 1963 die Einstellung des Betriebs und die Umstellung auf reinen Busverkehr. Schon 1962 war der Güterverkehr mit Rollböcken eingestellt worden.
Schon 1967, erst drei Jahre nach der Inbetriebnahme der Neubaustrecke, begann schließlich der Abbau des Netzes mit Stillegung der Betzinger Strecke, die am 9. September aufgrund von Bauarbeiten ihren Betrieb einstellen musste. 1968 begannen Umbauarbeiten am zentralen Karlsplatz, die 1969 zur Trennung des Schienennetzes in ein Nord- und ein Südnetz führten. Das Nordnetz mit den Strecken nach Altenburg und Orschel-Hagen wurde schließlich am 27. Mai 1970 auf Busbetrieb umgestellt. Die Stillegung der beiden Südstrecken nach Eningen und Pfullingen war für 1972 geplant, musste aber zunächst aufgrund von Widerständen verschoben werden. Letztlich fiel aber die Entscheidung, die Bahn 1974 einzustellen. Am 19. Oktober 1974 rollten schließlich die letzten Bahnen durch Reutlingen.
[Bearbeiten] Liniennetz
Aufgrund der geringen Größe des Netzes gab es in Reutlingen nur relativ wenige Linienänderungen. Insgesamt wurden nur vier Liniennummern verwendet, diese waren auch erst seit Anfang der 60er Jahre an den Fahrzeugen sichtbar. Zuvor waren lediglich die Endstellen angegeben worden.
- Linie 1 fuhr von Eningen nach Betzingen über den Karlsplatz. Sie bediente damit auch die Strecke der früheren Dampfbahn. Ab 1967 fuhr sie nach Stillegung des Betzinger Astes nur noch bis zum Karlsplatz, 1968 wurde sie aufgrund der Netztrennung bis zu einer neuen Endstelle in der unteren Wilhelmstraße zurückgezogen. Ihre maximale Länge betrg 7,20 km.
- Linie 2 fuhr vom Karlsplatz nach Pfullingen über den Südbahnhof. Analog zur Linie 1 wurde sie 1968 in die untere Wilhelmstraße zurückgenommen. Ihre maximale Länge betrug 4,20 km. An der Endstelle in Pfullingen befand sich eine der beiden als Wendeschleifen ausgebauten Endstellen der Reutlinger Straßenbahn.
- Linie 3 fuhr vom Karlsplatz nach Altenburg über Rommelsbach und Oferdingen. Aufgrund der unübersichtlichen Strecke in Rommelsbach gab es besonders auf der Linie 3 viele Straßenbahnunglücke. Ab 1968 konnte die Linie 3 aufgrund des Umbaus des Karlsplatz nur noch bis zu einer neu gebauten Endstelle im Nordring fahren. Die maximale Streckenlänge betrug 8,26 km, sie war damit die längste Reutlinger Linie.
- Linie 4 fuhr vom Karlsplatz nach Hagen über Orschel. Sie war die neueste Strecke des Reutlinger Stadtverkehrs, wie auch die Linie 3 fuhr sie ab 1968 nur noch bis zum Nordring. Ihre maximale Länge betrug 3,60 km.
Im Zuge der geplanten Umbauten des Karlsplatzes war die Einrichtung neuer Durchmesserlinien mit dichterem Angebot geplant worden. Ab 6. Januar 1968 sollte folgendes Angebot gefahren werden, wozu auch bereits weitere Ausweichen eingbaut worden waren:
- Linie 1: Eningen - Karlsplatz - Orschel-Hagen
- Linie 2: Pfullingen - Karlsplatz - Rommelsbach
- Linie 3: Karlsplatz - Rommelsbach - Altenburg
- Linie 4: Karlsplatz - Orschel-Hagen
Aufgrund einer Fehlplanung am Karlsplatz war allerdings für die dort endenden Züge zusätzlicher Rangieraufwand nötig, was nach Einführung der neuen Linien zu einem Chaos und stundenlangen Verspätungen führte. Nach wenigen Tagen wurde wieder das bisherige Liniennetz eingeführt.
[Bearbeiten] Fahrzeuge
Insgesamt setzte die Reutlinger Straßenbahn während ihres Bestehens 28 Triebwagen und 44 Beiwagen ein. Hinzu kamen diverse Arbeitsfahrzeuge sowie eine Güterzuglok. Für die Dampfzüge waren bis zur Elektrifizierung vier kleine zweiachsige Lokalbahnlokomotiven vorhanden. Während die Lokomotiven ausgemustert und verkauft wurden, wurden die Beiwagen für den elektrischen Betrieb umgerüstet.
[Bearbeiten] Elektrische Triebwagen und Lokomotiven
Bezeichnung | Baujahr | Hersteller | Sitzplätze | Achsfolge | Ausmusterung | Anmerkungen |
---|---|---|---|---|---|---|
21 - 27 | 1912 - 1916 | Waggonfabrik Herbrand | 18 | 2x | ab 1970 | |
28 - 29 | 1928 | Maschinenfabrik Esslingen | 18 | 2x | ab 1970 | |
30 - 31 | 1912 | Maschinenfabrik Esslingen | 18 | 2x | ab 1970 | 1949 ex Stuttgarter Straßenbahn |
32 - 33 | 1912 | Schweizerische Waggonfabrik Schlieren | 16 | 2x | ab 1970 | 1950 ex Luzerner Straßenbahn, Einsatz nur als Arbeitswagen |
34 | 1910 | Maschinenfabrik Esslingen | 16 | 2x | 1974 | 1961 ex Stuttgarter Straßenbahn |
35 | 1929 | Maschinenfabrik Esslingen | 22 | 2x | 1974 | 1962 ex Stuttgarter Straßenbahn |
51 - 54 | 1928 | Maschinenfabrik Esslingen | 18 | 2x | ab 1970 | |
55 | 1929 | Maschinenfabrik Esslingen | 22 | 2x | 1974 | |
56 - 58 | 1955 - 1957 | Maschinenfabrik Esslingen | 22 | 2x | 1974 | |
59 - 61 | 1964 | Maschinenfabrik Esslingen | 41 | 4x | 1974 | 1976 nach Stuttgart verkauft, von dort an die Straßenbahn Ulm |
62 - 63 | 1950 | Maschinenfabrik Esslingen | 22 | 2x | 1974 | 1967 ex Stuttgarter Straßenbahn, baugleich mit Tw 55 |
Güterlokomotive 1 | 1913 | BBC Mannheim | - | 2x | 1963 |
[Bearbeiten] Beiwagen
Bezeichnung | Baujahr | Hersteller | Sitzplätze | Achsfolge | Ausmusterung | Anmerkungen |
---|---|---|---|---|---|---|
1 - 10 | 1899 | Waggonfabrik Rastatt | 12 | 2x | ab 1955 | |
11 - 13 | 1916 | Waggonfabrik Herbrand | 18 | 2x | ab 1963 | |
14 | 1914 | ? | 18 | 2x | 1963 | 1922 ex Straßenbahn Hohenstein-Ernstthal-Oelsnitz |
15 - 16 | 1914 | ? | 22 | 2x | ab 1950 | 1925 ex Straßenbahn Krefeld |
17 - 19 (erste Besetzung) | ? | Waggonfabrik Gotha | ? | 4x | vor 1938 | 1925 ex Mansfelder Straßenbahn |
17 - 18 | 1936 | Maschinenfabrik Esslingen | 22 | 2x | 1970 | |
19 - 20 | 1939 | Maschinenfabrik Esslingen | 22 | 2x | ab 1970 | |
36 - 39 | 1950 | Maschinenfabrik Esslingen | 22 | 2x | ab 1970 | |
40 - 42 | 1953 | Maschinenfabrik Esslingen | 22 | 2x | 1974 | |
43 - 47 | 1955 - 57 | Waggonfabrik Fuchs | 22 | 2x | 1974 | |
48 - 49 | 1964 | Maschinenfabrik Esslingen | 22 | 2x | 1974 | |
71 - 76 | 1928 - 29 | Maschinenfabrik Esslingen | 22 | 2x | ab 1968 | |
77 - 78 | 1964 | Maschinenfabrik Esslingen | 22 | 2x | 1974 | 1962 ex Stuttgarter Straßenbahn |
79 - 82 | 1950 - 53 | Maschinenfabrik Esslingen | 22 | 2x | 1968 ex Stuttgarter Straßenbahn (nicht mehr in Betrieb genommen) |
[Bearbeiten] Strecken und Betriebshöfe
Alle Strecken der Reutlinger Straßenbahn waren eingleisig in 1000 mm Spurweite angelegt. Es war einer der Hauptgründe, weshalb die Straßenbahn schließlich abgeschafft wurde, da der eingleisige Betrieb nur sehr starr und langsam durchgeführt werden konnte und Verspätungen nur schwer ausgeglichen werden konnten. Mit insgesamt 19,5 km Streckenlänge zwischen 1964 und 1967 hatte das Netz seinen größten Umfang. Davon lagen immerhin 12,8 km auf eigenem Bahnkörper. Insgesamt betrug die Gleislänge mitsamt allen Ausweichen und Abstellgleisen in den Betriebshöfen 22,2 km. 1952 lagen im Netz insgesamt 64 Weichen. Die verwendete Oberleitungsspannung betrug 650 Volt Gleichstrom, die zulässige Höchstgeschwindigkeit betrug maximal 40 km/h, die maximale Steigung
Die Reutlinger Straßenbahn hatte - bedingt durch ihre Entstehung aus zwei Betrieben - zwei Betriebshöfe, einen in Eningen für die Linien 1 und 2 und einen in Oferdingen, der die Linien 3 und 4 abdeckte. Diese Trennung blieb jahrelang bestehen, unter anderem gab es bis 1962 noch zwei verschiedene Kupplungssysteme.
[Bearbeiten] Literatur
- Reutlinger Strassenbahn, Wolf Rüdiger Gassmann; Claude Jeanmaire, Verlag Eisenbahn, Villigen, 1977, ISBN 3-85649-034-5