Temporallappen
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Der Temporallappen (lat. Lobus temporalis, „Schläfenlappen“) ist einer der fünf Lappen des Großhirns und macht dessen laterobasalen (unten und seitlich gelegenen) Anteil aus. Er wird durch den Sulcus lateralis (Fissura Sylvii) nach oben und vorne gegen den Scheitellappen (Parietallappen, Lobus parietalis) und den Stirnlappen (Frontallappen, Lobus frontalis) abgegrenzt, nach hinten grenzt er an den Hinterhauptslappen (Occipitallappen, Lobus occipitalis). Der Temporallappen enthält den primären auditorischen Cortex, das Wernicke-Sprachzentrum und wichtige Strukturen für das Gedächtnis.
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[Bearbeiten] Funktion und Lokalisation
[Bearbeiten] Primärer auditorischer Cortex
In der Tiefe des Sulcus lateralis liegen die Gyri temporales transversi (Heschl´sche Querwindungen, benannt nach dem österreichischen Anatom Richard Heschl (1824-1881)), die den primären auditorischen Cortex bilden (Brodmann A41). Die Nervenfasern aus dem Ohr ziehen nach der Kreuzung zur Gegenseite über den Lemniscus lateralis zu den Colliculi inferiores und von dort über den Pedunculus colliculi inferioris zum Corpus geniculatum mediale. Durch die Capsula interna erreichen sie dann die primäre Hörrinde. Die Hörrinde zeigt analog dem sensorischen und motorischen Cortex eine tonotopische Gliederung nach Frequenzen. Die Hörbahn besitzt mehrere Kommissurensysteme, die einen Faserwechsel ermöglichen. So gelangen auch einige Faserbündel zur gleichseitigen Hörrinde, was Bedeutung für das Richtungshören hat.
[Bearbeiten] Wernicke Sprachzentrum
Im Gyrus temporalis superior befindet sich ein sensorisches Sprachzentrum (das sogenannte Wernicke-Zentrum, Brodmann-Areal A22), das für das Sprachverständnis wichtig ist. An der Verarbeitung und dem Verständnis von Sprache sind aber noch eine ganze Reihe weiterer Areale beteiligt (siehe Sprachzentrum).
[Bearbeiten] Gedächtnisstrukturen
Der mediale Teil des Temporallappens enthält den Hippocampus, den entorhinalen, perirhinalen und parahippocampalen Cortex, die das bedeutendste „Koordinationszentrum“ des deklarativen (expliziten) Gedächtnisses darstellen.
Der untere temporale Bereich (IT) selbst ist Teil des visuellen Arbeitsgedächtnis (working memory). Hier wird das, was gerade wahrgenommen wird, kurzzeitig gespeichert (Sekunden bis Minuten). Auch der Vergleich mit den nächstfolgenden Wahrnehmungsinhalten erfolgt hier. Der Hippocampus wird erst dann benötigt, wenn bestimmte Informationen mittel- bis langfristig im Gedächtnis behalten werden sollen.
[Bearbeiten] Neocorticale assoziative Areale
Viele Bereiche des Temporallappens sind auch für die Erkennung von komplexen nichträumlichen auditorischen und visuellen Reizen zuständig, wie z.B. dem Erkennen von Körperteilen – insbesondere Gesichtern – und anderer bedeutungsvoller Gegenstände (Nahrung, Beute).
Bei elektrischer Reizung des IT (Versuche von Wilder Penfield 1959 bei epileptischen Patienten) kommt es zu Erlebnishalluzinationen (experiential response), die die Patienten als zusammenhängende Erinnerungen an vergangene Erlebnisse beschreiben. Diese Gedächtnisreaktionen ließen sich nur bei Reizung des Temporallappens erzeugen, sie waren eher selten (8% der Reizversuche) und ihre Entstehung und Bedeutung ist noch nicht geklärt.
[Bearbeiten] Der rechte Schläfenlappen sorgt für Geistesblitze
Plötzliche Geistesblitze sind Ursprung großartiger wissenschaftlicher Erkenntnisse. Doch auch im Alltag gehen uns oftmals Lichter auf und Lösungen für langdurchdachte Probleme liegen auf der Hand. Durch neue wissenschaftliche Untersuchungen hat man nun mehr über dieses Phänomen herausgefunden.
Von Isaac Newton wird erzählt, dass er auf den Kern der Gravitationslehre gekommen sei, während er unter einem Apfelbaum verweilte und ihm ein Apfel direkt auf den Kopf fiel. Der Mathematiker Archimedes, der schon längere Zeit darüber nachgedacht hatte, wie man die Echtheit der Goldkrone des Königs nachweisen könne, kam auf die rettende Idee, als er in seine randvolle Badewanne stieg. Ihm fiel plötzlich ein, dass das durch seinen Körper verdrängte Wasser, das über den Rand der Wanne abfloss, Aufschluss über sein eigenes Volumen gab. Angeblich rannte er nackt durch die Straßen, während er „Heureka!“ - „Ich hab’s!“ – schrie.
Mark Jung-Beeman und seine Kollegen von der Northwestern University in Illinois betrieben Nachforschungen über die Vorgänge im menschlichen Gehirn während der sogenannten Geistesblitze. Einige ihrer Studenten hatten Wörterprobleme zu lösen, während die Gehirnaktivität in den jeweiligen Zentren mittels funktioneller Magnetresonanz-Tomographie (fMRI) genau untersucht wurden. Sie hatten zu drei vorgegebenen Wörtern ein viertes hinzuzufügen und daraus einen Zusammenhang zu erstellen. Der dadurch ausgelöste „Geistesblitz“ verursachte eine gesteigerte Aktivität in der rechten Gehirnhemisphäre, genauer im oberen Bereich des Gyrus temporalis superior, einer Windung an der Außenfläche des Schläfenlappens. Eine Drittelsekunde vor dem blitzartigen Einfall stellte Jung-Beeman eine hochfrequente Aktivität im Gammabereich fest, ein Zeichen kognitiver Prozesse, anderthalb Sekunden vor dem Geistesblitz hingegen eine niederfrequente Gamma-Aktivität in der hinteren rechten Hirnrinde. Überraschend war hingegen, dass sich sehr wenig Aktivität in diesem Bereich während der methodischen, rationalen Form der Problemlösung herausstellte. Zudem fanden Forscher heraus, dass sich keinerlei Regungen im linken Schläfenlappen während der spontanen Aha-Erlebnisse zeigten. Mittels eines Elektroenzephalogramms (EEG) kamen Wissenschafter zur Erkenntnis, dass 1,5 Sekunden vor dem Geistesblitz ein Aktivitätsschub niedriger Frequenz oberhalb des rechten posterioren Cortex stattfindet. Mit zunehmender Aktivität der Neuronen im rechten Gehirnlappen verschwand dieser Effekt wieder. Das Gehirn nimmt in diesem Moment weniger visuelle Reize auf, um den Vorgang der Problemlösung zu beschleunigen. John Kounios von der Drexel University in Philadelphia berichtete: „Das ist, als ob man die Augen schließt, um sich zu konzentrieren. Nur dass in diesem Fall das Hirn die visuellen Reize einfach abblockt.“
Zuerst arbeitet das Unterbewusstsein an der Lösung des Problems, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, dann erscheint der Einfall plötzlich und unerwartet im Bewusstsein, wie eine Intuition und wir wundern uns. Auch vergessene Erinnerungen gelangen auf diese Weise wieder in unser Gedächtnis.
[Bearbeiten] Blutversorgung des Temporallappens
Der basale und hintere mediale Teil des Temporallappens wird von den Arteriae cerebri posteriores versorgt, die aus der Arteria basilaris hervorgehen. Der laterale und vordere mediale Teil erhält seine Blutversorgung über Äste der Arteriae cerebri mediae aus der Arteria carotis interna.
[Bearbeiten] Pathologie
Entsprechend der vielfältigen funktionellen Bereiche des Temporallappens treten bei traumatischen oder iatrogenen Läsionen vielfache Störungen und Beeinträchtigungen auf.
Der erste und bestuntersuchteste Fall war der Fließbandarbeiter Henry M., dem aufgrund einer nicht behandelbaren Epilepsie die medialen Bereiche beider Temporallappen entfernt wurden. Nach der Operation litt der Patient unter einer schwerwiegenden anterograden Amnesie, er war nicht mehr in der Lage, neu Gelerntes in das Langzeitgedächtnis zu übertragen. Dabei zeigte er eine normale Sprachbeherrschung und sein Vokabular und Intelligenzquotient blieben im etwas überdurchschnittlichen Bereich. Durch den Gedächtnisverlust war er nicht mehr zu explizitem Lernen fähig. Allerdings war er noch sehr wohl in der Lage zu impliziten Lernvorgängen, auch wenn er sich dessen nicht bewusst war.
Läsionen des assoziativen temporalen Cortex können zu multiplen visuellen und auditorischen Defiziten führen (Agnosien). So kann das Erkennen oder Benennen von Objekten gestört sein (Objektagnosie) oder das Erkennen von Gesichtern (Prosopagnosie). Auditive Agnosien betreffen die Unfähigkeit Töne, Melodien, Rhythmen oder Tempo von Musik zu erkennen (Amusie). Weiterhin kann es zu Wort- und Sprachverständnisstörungen (Aphasien) kommen, wenn der linke obere und mittlere Bereich des Temporallappens betroffen ist (Wernicke Areal).
[Bearbeiten] Literatur
- Eric R. Kandel u.a. (Hrsg.): Neurowissenschaften. Eine Einführung, Spektrum Akademischer-Verlag, Heidelberg 1996, ISBN 3-86025-391-3
- Gerhard Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Suhrkamp, Frankfurt/M. 2002, ISBN 3-518-28875-X
- Johannes Sobotta (Hrsg.): Atlas der Anatomie des Menschen, Elsevier, Urban & Schwarzenberg, München 2004, ISBN 3-437-43590-6