Sowjetisches Atombomben-Projekt
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Das sowjetische Atombombenprojekt war eine Reaktion auf das deutsche Uranprojekt und das amerikanische Manhattan-Projekt der 1930er und 1940er Jahre. Das sowjetische Atombombenprojekt begann Mitte der 1930er Jahre unter der Leitung zunächst von Abram Joffe und ab 1941 von Igor Kurtschatow. Das Projekt endete mit der ersten erfolgreichen Zündung einer sowjetischen Atombombe am 29. August 1949.
Inhaltsverzeichnis |
[Bearbeiten] Die Kernforschung in der Sowjetunion
[Bearbeiten] Beginn der Kernforschung
In der Sowjetunion begann 1917 die systematische Forschung zur Radioaktivität. 1920 gründete man in Leningrad zu diesem Zweck ein Physikalisch-Technisches Institut (russisch Ленинградский физико-технический институт, Leningradski fisiko-technitscheski institut; Abk. ЛФТИ, LFTI; inoffiziell kurz Физтех, Fistech). Unter der Leitung von Abram Joffe zog das Institut die erste Generation der Wissenschaftler an, die nach der Revolution ausgebildet worden war - unter ihnen Igor Kurtschatow. Kurtschatow wurde 1903 geboren, graduierte 1923 und kam 1925 auf Einladung Joffes ans Fistech. Bis zum Ende der 1920er Jahre wuchs das Institut beträchtlich und beschäftigte über 100 Wissenschaftler. Auf der Grundlage der modernen Physik forschten zwar auch die Universität in Moskau und das Radiuminstitut in Leningrad, doch besonders das Fistech stand im Austausch mit dem Ausland. Joffe verfügte über Kontakte nach Westeuropa, unter anderem nach Kopenhagen zu Niels Bohr und nach Cambridge zu Ernest Rutherford.
[Bearbeiten] Import westlichen Know-Hows
Da die Sowjetunion weit hinter den westlichen Ländern lag, importierten die Bolschewiki während des ersten Fünfjahresplanes westeuropäische und amerikanische Technik. Zum raschen Fortschritt der Kernphysik in der Sowjetunion trug entscheidend bei, dass Joffe mehr als 30 Forscher ins Ausland schickte und zahlreiche Gastwissenschaftler einlud. Kurz nach den revolutionären Entdeckungen in Westeuropa 1932, lud Joffe 1933 zur ersten All-Unionskonferenz über den Atomkern, bei der sich viele Wissenschaftler aus dem In- und Ausland trafen. Schon 1932 war Kurtschatow zu den Kernphysikern gewechselt. Mitte der 1930er Jahre zählte man die Gruppe um Kurtschatow international bereits zu den führenden Schulen der Kernphysik. Als 1938 die Aufsätze über die gelungene Kernspaltung eintrafen, begann man sofort mit der Wiederholung der Experimente. Die Physik hatte das Glück die Säuberungswellen 1934 und 1938 fast unhelligt zu überstehen. 1940 wurde eine Urankommission eingesetzt, um den latenten Mangel an Uran-235 beenden und die Institute zu versorgen. Auf der 5. All-Unionskonferenz vom 20. bis 26. November 1940 trafen sich über 200 Physiker. Ein Thema war der seit 1939 diskutierte Bau einer Atombombe, dessen Realisation aber selbst die Optimisten erst 50 Jahre später erwarteten.
[Bearbeiten] Das Bombenprojekt
[Bearbeiten] Die Kernforschung während des Krieges
Als das Deutsche Reich 1941 die Sowjetunion überfiel, wurden die sowjetischen Kernphysiker nicht vom Kriegsdienst befreit, was ihren geringen Stellenwert in den Augen der sowjetischen Führung widerspiegelt. Das Fortschreiten des Bombenprojekts der Vereinigten Staaten und Gerüchte über ein deutsches Atomprojekt führten jedoch dazu, dass Stalin 1942 der Wiederaufnahme des Atomprogramms zustimmte. Kurtschatow wurde als Leiter der Forschung eingesetzt, und bezog eindeutig für das Projekt Stellung. Denkt man an das Tempo der Forschung bis 1940, so hatten die dreijährige Pause und der Publikationsstop die sowjetischen Forscher weit zurückgeworfen. Jetzt ersetzte der Geheimdienst NKWD die Aufsätze aus dem Ausland und ergänzte, in den Worten eines Forschers, „genau das, was den Physikern fehlte.“ Teile des Geheimdienstes arbeiteten ausschließlich für das Atomprojekt.
Trotzdem blieb es Kurtschatow, der den Weg zur ersten sowjetischen Bombe organisierte. Das Staatliche Verteidigungskomitee entschied nun, ein Bombenprojekt zu starten; das Laboratorium Nummer 2 wurde gegründet und Kurtschatow sein Direktor. Die sowjetischen Forscher hatten eine eigene Methode der Isotopentrennung entwickelt. Sie kopierten aber die Amerikaner, obwohl deren Methode letztendlich wahrscheinlich ineffektiver war als die selbst entwickelte. Die Physiker scheuten die praktische Anwendung der eigenen Grundlagenforschung, denn Misserfolge und Fehler wurden als Sabotage meist mit der Todesstrafe geahndet.
[Bearbeiten] Die Kernforschung nach dem Krieg
Am Ende des Krieges war das Atomprojekt in einer Zwischenphase angelangt: Die theoretische Forschung lag auf amerikanischem Niveau und konnte experimentell nachvollzogen werden. Es fehlte dagegen die Möglichkeit der Produktion; also erschuf man in der nächsten Phase eine vollkommen neue Industrie: Die Atomindustrie. Auch das Uranproblem löste man schließlich mit Hilfe des Auslands. Die sowjetische Regierung schloss nach dem Krieg mit der Tschechoslowakei einen Vertrag über die Ausbeutung ihrer Minen und entsandte das NKWD und ungefähr 30 Physiker auf eine Spezialmission nach Deutschland, um verbliebene Experten - die sogenannten "Spezialisten" - aufzuspüren und Uranlager zu entdecken. Doch noch erhielt das Projekt nicht die höchste Priorität, weil die sowjetische Führung an seinem Erfolg zweifelte. Vor allem aber fehlte der sowjetischen Führung der Weitblick auf die strategische Bedeutung einer Atombombe in der Zukunft. Erst der Abwurf einer Atombombe durch die amerikanische Luftwaffe auf Hiroshima am 6. August 1945 verdeutlichte Stalin den engen Zusammenhang zwischen Bombe und Außenpolitik.
Bereits am 20. August 1945 wurden ein Spezialkomitee und die Erste Hauptabteilung eingesetzt. Die Erste Hauptabteilung sollte das Atomprojekt leiten, das Spezialkomitee die gesamte Arbeit zur Nutzung der atomaren Energie. Alle wichtigen Entscheidungen erforderten Stalins Genehmigung. Die Verlagerung des Gewichts weg vom Militär setzte sich im Spezialkomitee fort: fast alle Mitglieder stammten aus der Administration, keine von den Streitkräften und nur zwei aus der Wissenschaft. Außerdem brachten das NKWD und einige Volkskommissariate ihre Mitarbeiter, Techniker und Ingenieure in das Atomprojekt ein.
Das Laborprojekt musste nun in eine Industrie umgeformt werden, denn Stalin verlangte die Atombombe so schnell wie möglich. Man entschied sich daher zur unmittelbaren Kopie der amerikanischen Bombe.
[Bearbeiten] Zündung der Bombe
Ab Juni 1946 machte das sowjetische Projekt rasante Fortschritte: metallisches Uran wurde produziert, man plante den ersten Reaktor zur Produktion von Plutonium, ein Trennwerk und ein Waffenlabor. Am 25. Dezember 1946 wurde der Atomreaktor das erste Mal kritisch. Den Plan der Vereinigten Staaten nun eine Atomagentur einzurichten, lehnte die sowjetische Regierung als Versuch ab, das Monopol zu sichern.
Und schneller als man im Bericht geschätzt hatte, erklärte Kurtschatow die erste sowjetische Atombombe für abwurfbereit. Während der Berlinblockade 1948 war der Abschreckungseffekt der Atombombe zum ersten Mal zu erkennen gewesen. Dies war der Startschuss für das atomare Wettrüsten der kommenden Jahrzehnte. Den ersten Schritt zum atomaren Patt machte die Sowjetunion schließlich mit der erfolgreichen Zündung ihrer ersten Atombombe am 29. August 1949. In den folgenden Jahren begannen beide Staaten den Kalten Krieg mit ihren Wissenschaftlern auch in der Internationalen Atomenergiekommission zu führen.
[Bearbeiten] Zwangsarbeit und Geheimstädte
Da Stalin die Bombe so schnell wie möglich wollte, beachtete niemand den unverhältnismäßig hohen Aufwand für Material, Geld und Ressourcen. In der geforderten Menge konnten diese nur mit Hilfe von Zwangsarbeit gewonnen werden. Die Ressourcen fehlten dem Land außerdem beim Wiederaufbau nach dem Krieg.
Mit der Atomindustrie breitete sich das Projekt, und damit auch die Verbindung von Wissenschaft und Zwangsarbeit, schnell über den europäischen Teil der Sowjetunion aus: Reaktoren, Labore, Werkstätten, Minen. Da die Entwicklung der Bombe die gesamte Zeit über ein sehr sensibles Projekt war, entstanden ganze Geheimstädte, neben Arsamas-16 (heute Sarow) auch Tscheljabinsk-40 (heute Osjorsk bzw. Chemiekombinat Majak) und ein Dutzend anderer. Die Städte lagen tief im Innern der Sowjetunion, um sie gegen Angriff und Spionage zu schützen.
Arsamas-16 selbst wurde unweit eines Arbeitslagers gegründet. Mit Hilfe von Zwangsarbeitern baute man in kurzer Zeit die gesamte Infrastruktur auf, so zum Beispiel das Konstruktionsbüro-11, in dem man die Experimentalphysiker sammelte. In Arsamas-16 lebten die Forscher auf 250 km² - selbst umzäunt von Stacheldraht und mit Ausgangsverbot. Sie wurden bewacht und überwacht: „Berias Leute waren überall.“ Das Atomprojekt bediente sich einer ungeheuren Masse von Zwangsarbeitern, Männern und Frauen. Allein in Tscheljabinsk-40 arbeiteten 70.000 Gefangene. Es wird geschätzt, dass in der Atomindustrie insgesamt zwischen 300.000 und 460.000 Menschen beschäftigt wurden, etwa drei Viertel davon in den Minen – doch auch in der Konstruktion, in der Produktion und in der Forschung.
[Bearbeiten] Umweltverschmutzung
Die Häftlinge verstrahlten sich in den Uranminen, in unvorstellbarem Ausmaß verschmutzte man die Umwelt mit radioaktiver Strahlung und belastete die Bevölkerung über die Flüsse, die Luft und die Nahrung. Der verantwortungslose Umgang mit Radioaktivität konnte furchtbare Konsequenzen für Menschen haben. Bereits 1941 hatte das Maud Komitee in den Vereinigten Staaten die Gefahr durch Radioaktivität für das menschliche Leben festgestellt und die sowjetischen Wissenschaftler kannten den Bericht. Trotzdem evakuierte man die Bevölkerung erst unmittelbar vor dem ersten Test der Wasserstoffbombe, weil Kurtschatow es schlicht vergessen hatte.
[Bearbeiten] Die Entwicklung einer Wasserstoffbombe
Kurtschatow bat Igor Tamm, bei der Entwicklung der Wasserstoffbombe zu helfen. Dieses Projekt erhielt auf Grund des erneuten amerikanischen Vorsprungs auf dem Gebiet Priorität nach dem erfolgreichen Atombombenprojekt. Mit Tamm band Kurtschatow die Moskauer Schule an das Projekt und gewann damit herausragende Theoretiker, darunter auch Andrej Sacharow. Tamms Gruppe wechselte im Frühjahr 1950 nach Arsamas-16. Schnell erarbeitete sie alternative Vorschläge für den Bau der Wasserstoffbombe. Im Gegensatz zur Atombombe war die Wasserstoffbombe eine eigene Entwicklung der sowjetischen Wissenschaft. Ihre erfolgreiche Zündung gelang erstmals 1953. Unter den Schülern Joffes finden sich zahlreiche spätere Nobelpreisträger für Physik.
[Bearbeiten] Literatur
- Dietrich Beyrau (Hrsg.): Im Dschungel der Macht. Intellektuelle Professionen unter Hitler und Stalin, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2000
- Andreas Heinemann-Grüder: Die erste sowjetische Atombombe, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 1992
- David Holloway: Stalin and the Bomb. The Soviet Union and Atomic Energy, 1939 – 1956, Yale University Press, New Haven/London 1994
- Paul R. Josephson: Red Atom: Russia's Nuclear Power Program From Stalin to Today, Freeman, New York 2000
[Bearbeiten] Film
- Filmagentur Dialog: Arzamas-16, Mitteldeutscher Rundfunk (1996).