Radio Eriwan
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Als Radio Eriwan (auch Sender Jerewan, Radio Jerewan) bezeichnet man im Deutschen eine spezielle Kategorie politischer Witze, insbesondere in den sozialistischen Ländern des 20. Jahrhunderts. In der DDR kursierten diese Witze auch mit der stereotypischen Einleitung „Anfrage an den Sender Jerewan:“ - „...?“.
Eriwan ist der Name der Hauptstadt Armeniens, früher eine Sowjetrepublik der UdSSR. Die den Witzen zugrunde liegende Rundfunksendung existierte jedoch nie. Radio Eriwan war vielmehr „eine freie Erfindung des von staatlicher Propaganda unterdrückten Geistes, die kleine Rache der Sowjetbürger für die Entbehrungen des Alltags“. [1] Auf russisch hieß der nicht existente Sender „Armjanskoe Radio“ (Armenischer Hörfunk).
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[Bearbeiten] Aufbau der Witze
Auch die Grundstruktur eines klassischen Radio-Eriwan-Witzes ist stereotyp. Es wird eine Frage an Radio Eriwan gestellt, die Antwort lautet floskelhaft nach russischsprachlich-stilistischem Vorbild immer:
„Im Prinzip ja ...“, bzw. „Im Prinzip nein ...“, und dann: „aber“... („в принципе“ - „v prinzipje“)
Der Witzcharakter ergibt sich aus den nachfolgenden Aussagen, die die Grundaussage des ersten Satzes konterkarieren. Vielfach hatten und haben die Radio-Eriwan-Witze den Charakter eines politischen Witzes, besonders in der Zeit des Realsozialismus. Dabei ermöglichte die typische Radio-Eriwan-Konstruktion, Kritik am Sozialismus so zu verpacken, dass sie mehrdeutig formuliert war und sowohl systemkonform als auch systemkritisch verstanden werden konnte. Manche Radio-Eriwan-Witze sind unpolitisch, aber stattdessen unmoralisch.
Nach Deutschland kamen die Radio-Eriwan-Witze nicht zuletzt durch die Zeitschrift Sputnik. Sputnik war ein Hochglanz-Magazin im DIN-A5-Format, das europaweit vertrieben wurde. Es wurde ab 1967 von der Presseagentur Nowosti auf Russisch, Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Tschechisch und Ungarisch vertrieben. Zielgruppe war neben dem sozialistischen Ausland auch das westliche Ausland, für die deutschsprachige Ausgabe sowohl die DDR als auch die damalige Bundesrepublik Deutschland. Dabei versuchte Nowosti zeitweise, im Westen Sympathien durch begrenzt systemkritische Formulierungen zu gewinnen. Paradebeispiel dafür war die in vielen Ausgaben vorhandene Rubrik der Radio-Eriwan-Witze. In den 80er Jahren wurde im Zuge der beginnenden Glasnost- und Perestroika-Politik des Generalseketärs Michail Gorbatschow sowohl die generelle Berichterstattung im Sputnik als auch insbesondere die Radio-Eriwan-Witze offener und systemkritischer. Am 19. November 1988 wurde die Zeitschrift Sputnik in der DDR verboten.
[Bearbeiten] Beispiele für Witze
Acht mehr oder weniger repräsentative Beispiele für die Radio-Eriwan-Witze:
- Darf man die Pilze aus Tschernobyl wieder essen?
– Im Prinzip ja, aber Sie dürfen ihre Toilette nicht an die öffentliche Kanalisation angeschlossen haben. - Stimmt es, dass der Kapitalismus am Abgrund steht?
– Im Prinzip ja, aber wir sind dabei, ihn zu überholen. - Was ist ein Chaos?
– Fragen aus der Landwirtschaft werden nicht beantwortet! - Gibt es in der Sowjetunion eine Pressezensur?
– Im Prinzip nein. Es ist uns aber leider nicht möglich, auf diese Frage näher einzugehen. - Stimmt es, dass ein sozialistischer Betriebsleiter einen sozialistischen Betrieb leiten kann?
– Im Prinzip ja, aber haben Sie schon mal einen Zitronenfalter gesehen, der Zitronen faltet? - Was wäre gewesen, wenn 1963 in Dallas nicht J. F. Kennedy, sondern Erich Honecker erschossen worden wäre?
– Können Sie sich vorstellen, dass Onassis eine Margot Honecker geheiratet hätte? - Muss man bei Gewitter den Verkehr unterbrechen?
– Im Prinzip nein. Es genügt bereits, die Antenne einzuziehen. - Können Sie uns sagen, wo der Erfinder der Radio-Eriwan-Witze sitzt?
– Wir wissen nicht, wo er sitzt, aber er sitzt bestimmt.
[Bearbeiten] Hinweis
Der amerikanische Sender Radio Free Europe/Radio Liberty war unter Exilrussen ebenfalls unter dem Spitznamen "Radio Eriwan" bekannt.
[Bearbeiten] Literatur
- Ivan Steiger: "Radio Eriwan antwortet". Lichtenberg-Verlag München, zul. 1984, ISBN 3-785-21086-8
- Wolfgang W. Parth, Michael Schiff, Ivan Steiger: "Neues von Radio Eriwan", Lichtenberg-Verlag München, zul. 1984, ISBN 3-596-21299-5
- Boris Bazarow: "Im Prinzip Ja - Flüsterwitze vom Sender Eriwan". Goldmann Verlag, München, 1970, ISBN 3-442-02777-2
[Bearbeiten] Weblinks
[Bearbeiten] Quellen
- ↑ Andrea Strunk in „Das Leben - eine Wunde“