Ethnomethodologie
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Ethnomethodologie ist eine handlungstheoretische Forschungsrichtung in der Soziologie, die von Harold Garfinkel in Kalifornien (USA) begründet wurde. Der Begriff 'Ethnomethodologie', den er in den 1950ern entwickelte, ist vage an die thematische Gliederung der Anthropologie angelehnt (und damit nur bedingt aus dem Griechischen abgeleitet): ethnos bezeichnet hier die Mitglieder einer Gruppe und ihr Wissen, methodologie meint dessen systematische Anwendung in lokal-situativen Praktiken durch die Mitglieder selbst. Garfinkels 1967 erschienenes Buch "Studies in Ethnomethodology", eine Sammlung aus empirischen Studien und theoretischen Überlegungen, gilt als Ursprungstext dieser Forschungsrichtung. Es gibt deutliche Bezüge zum Werk des Phänomenologen Alfred Schütz.
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[Bearbeiten] Vorgehensweisen und Fokus
Beim ethnomethodologischen Arbeiten kommt es darauf an, abstrakte Theorien über die soziale Wirklichkeit zu vermeiden. Statt dessen wird untersucht, mit welchen alltagspraktischen Handlungen diese soziale Wirklichkeit hergestellt wird. Ethnomethodologische Forschung liefert präzise Beschreibungen der Methoden, die von Mitgliedern einer Gesellschaft, Gruppe oder Gemeinschaft verwendet werden, um zu tun, was auch immer sie tun. Das können hochspezialisierte, technische Tätigkeiten sein oder auch das Verhalten auf öffentlichen Plätzen.
Für die Ethnomethodologie sind die formalen Strukturen praktischer Handlungen von Interesse, es soll weder psychologisiert noch über Absichten spekuliert werden. Jegliche Kategorien und Schemata, die zur Analyse von Handlungen dienen, sind nur dann sinnvoll anzuwenden, wenn nachweisbar ist, dass sich die Handelnden tatsächlich selbst an diesen Kategorien und Schemata orientieren. Dieser Bezug zur praktisch erfahrbaren Wirklichkeit verweist auf die Verwandtschaft der Ethnomethologie zur Phänomenologie.
Von der Ethnomethodologie besonders intensiv bearbeitete Forschungsfelder sind die Schwesterdisziplin Konversationsanalyse, Arbeitsplatzstudien (vgl. Garfinkel 1986 und Luff et al. 2000) und Studien zur Wissenschafts-, Rechts- und Medizinsoziologie, oder auch CSCW. Maynard und Clayman (1991) geben einen Überblick über die Breite ethnomethodologischer Ansätze in der sozialwissenschaftlichen Forschung. Den Stand der Forschung in seiner ganzen Breite stellt auch der Sammelband von Coulter (1990) dar.
siehe auch: qualitative Methoden
[Bearbeiten] Annahmen der Ethnomethodologie nach Garfinkel
- Die Sprache ist unpräzise, da sie von so genannten okassionellen oder indexikalen Ausdrücken durchzogen ist.
- Diese indexikalen Ausdrücke werden von den Teilnehmern im Interaktionsverlauf ständig interpretiert.
- Damit Interaktion flüssig verläuft, müssen die Teilnehmer auf Grundlage von Vertrauen in korrekte Interpretationsleistungen der anderen Teilnehmer handeln.
- Die Teilnehmer an der Interaktion interpretieren die Phänomene so, dass für sie nachvollziehbar Sinn entsteht - es findet ständig eine sinnhafte Normalisierung statt.
Aus diesen methodologischen Annahmen ergab sich zum einen der methodische Ansatz des Krisenexperiments sowie zum anderen die Erkenntnis, dass Wissenschaft ihren herausgehobenen, objektiven Standpunkt nicht beibehalten kann, da sie ebenfalls auf Sprache rekurrieren muss, die wiederum von indexikalen Ausdrücken durchzogen ist. Hieraus ergibt sich das (mal schwächer, mal stärker ausgeprägte) Selbstverständnis einiger Ethnomethodologen, nicht eigentlich Wissenschaft sondern vielmehr Handwerk zu betreiben.
Im Hinblick auf soziale Ordnung ist für die Ethnomethodologie nicht die Verbindlichkeit und Stärke von moralischen Normen entscheidend, wie dies Emile Durkheim oder Talcott Parsons angenommen hatten, sondern die interaktive und interpretative Normalität des Alltags, auf deren Basis erst auf allgemeine moralische und soziale Normen Bezug genommen wird.
[Bearbeiten] Grundbegriffe
[Bearbeiten] Ethnomethodologische Indifferenz
Übersetzt aus dem englischen 'indifference' (Gleichgültigkeit, auch Beiläufigkeit). Indifferenz meint, daß kein Forschungsgegenstand einem anderen prinzipiell vorzuziehen ist. Vorerfahrungen des Forschenden werden unterdrückt (oder 'phänomenologisch ausgeklammert'). Die Verfahren zum Beschreiben, Analysieren und Darstellen richten sich immer entsprechend der lokal sich stellenden Anforderungen. Alles ist gleichermaßen interessant oder uninteressant: die echtzeitliche Produktion von Sinn in einem intersubjektiv geteilten Zusammenhang.
Nach Maßgabe der ethnomethodologischen Indifferenz gibt es keinerlei Präferenz für bestimmte Forschungsgebiete oder Themen. Wie eine Party abgesagt wird oder wie jemand Jazz spielen gelernt hat ist demnach genauso legitimes Untersuchungsobjekt wie das Fahren von 18-Tonnern auf Fernstraßen oder das praktische Durchführen von Untersuchungen der empirischen Sozialforschung: man kann lernen und darstellen, wie es gemacht wird, indem man hingeht und beobachtet, wie es gemacht wird.
[Bearbeiten] Krisenexperimente
Sind weniger Experiment als vielmehr 'Hilfestellung für eine nachlässige Erinnerung'. In den Krisen wird gezeigt, dass die Stabilität sozialer Normen in der Interaktion in beständig geleisteter Arbeit der Interaktanten besteht. Die Selbstverständlichkeit der funktionierenden Interaktion ist eine soziale Leistung der Beteiligten. Häufig werden Krisenexperimente unzulässig als Stereotyp der Ethnomethodologie verwendet; dabei führten Garfinkel und Kollegen diese Experimente v.a. in den 1960er Jahren durch.
[Bearbeiten] Durkheims Aphorismus
Émile Durkheim (The Rules of Sociological Method, ed. Steven Lukes (New York, Free Press 1895), S.45) empfahl, dass wir 'soziale Fakten als Dinge behandeln'. Üblicherweise wird das so verstanden, dass die Objektivität sozialer Tatsachen als gegeben angesehen wird und damit die Basis aller soziologischen Analyse stellt. Garfinkels Lesart dagegen stellt diese Objektivität sozialer Fakten als intersubjektiv hergestelltes Produkt interaktiver Anstrengungen dar und macht ihre Herstellung selbst zum Forschungsgegenstand.
[Bearbeiten] Literatur
- Coulter, Jeff (Hrsg.) 1990. Ethnomethodological Sociology. Aldershot, Edward Elgar. (ISBN 1-8527-8150-5)
- Garfinkel, Harold 1984. Studies in Ethnomethodology. Malden/MA: Polity Press/Blackwell Publishing. (ISBN 0-7456-0005-0)
- Garfinkel, Harold (Hrsg.) 1986. Ethnomethodological Studies of Work. London: Routledge & Kegan Paul. (ISBN 0-7100-9664-X)
- Luff, Paul, Jon Hindmarsh und Christian Heath (Hrsg.) 2000. Workplace studies : recovering work practice and informing system design. Cambridge/UK, New York: Cambridge University Press. (ISBN 0-521-59821-4)
- Maynard, Douglas und Steven E. Clayman 1991. "The Diversity of Ethnomethodology." Annual Review of Sociology. 17: 385-418.
- Patzelt, Werner J. 1987. Grundlagen der Ethnomethodologie : Theorie, Empirie und politikwissenschaftlicher Nutzen einer Soziologie des Alltags. München: Wilhelm Fink Verlag. (ISBN 3-7705-2444-6)
- Weingarten, Elmar, Fritz Sack und Jim Schenkein 1979. Ethnomethodologie : Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandelns. Frankfurt am Main: Suhrkamp. (ISBN 351807671-X)